asut-Bulletin
Ohne Vernetzung keine Mobilität
Ausgabe
04/2023
Ohne genaue Regeln geht gar nichts

Interview mit Michael Hilb, Universität Freiburg

Der Wechsel von branchen- zu ökosystembasierten Strategien steht bei vielen Unternehmen auf der Tagesordnung ganz oben. Doch die Mehrheit der Ökosysteme scheitert bereits nach wenigen Jahren. Warum das so ist, erklärt Michael Hilb, Dozent für Strategie, Unternehmertum und Corporate Governance, im Interview.

asut: Ökosystem ist zum Zauberwort geworden. Aber von was reden wir da eigentlich genau?

Michael Hilb: Der Begriff wird tatsächlich sehr oft falsch verwendet. Um von einem Ökosystem sprechen zu können, brauchen wir mindestens zwei Partner, die sich zusammenschliessen. Eine Partnerschaft allein ist aber noch kein Ökosystem. Um von einem solchen sprechen zu können, müssen diese Partner gemeinsam Leistungen für ihre Kunden erbringen oder Produkte entwickeln, die jeder für sich allein nicht anbieten könnte. Und schliesslich darf die Beziehung zwischen ihnen nicht rein hierarchisch sein: In einem Ökosystem haben alle Partner ein gewisses Mitspracherecht und finden gemeinsam Lösungen. Ein Ökosystem ist eine Art Konföderation mit teilweise demokratischen Regeln.

Ist ein Ökosystem per Definition branchenübergreifend?

Nicht unbedingt. Aber es ist tatsächlich meistens der Fall, weil es der Wertschöpfung förderlich ist, wenn Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen zusammenspannen.

Eine zukunftsgerichtete, nachhaltige, effiziente und kundenfreundliche Mobilität scheint prädestiniert für Ökosysteme. Ihre Untersuchungen zeigen nun aber, dass der grösste Teil der Ökosysteme schon nach kurzer Zeit scheitert. Woher kommt das?

Es gibt mehrere Gründe. Der erste Grund ist, dass sich die Interessen und Prioritäten der Beteiligten mit der Zeit verschieben. Das ist ganz natürlich und lässt sich kaum vermeiden. Nummer zwei ist, dass man oft etwas naiv an die Sache herangeht. Man macht zwar die richtigen strategischen Überlegungen, implementiert die passenden technologischen Lösungen und verfügt über genügend Kapital. Aber man unterschätzt die Komplexität von machtpolitischen und zwischenmenschlichen Faktoren, denkt nicht alles im Detail durch oder schätzt die Kundenbedürfnisse falsch ein: Den Realitätstest besteht ein Ökosystem dann nicht.

Es sind also eher die «weichen Faktoren», die zum Scheitern führen?

Genau: Strategie, Kapital, Technologie – das ist im Grunde der einfachere Teil bei der Entwicklung eines Ökosystems.

Und was müsste man tun, damit es klappt?

Entscheidend ist es, alle möglichen Szenarien durchzudeklinieren, alle Eventualitäten vorauszudenken und die Befindlichkeit aller Beteiligten im Auge zu behalten. Was zum Beispiel soll passieren, wenn das Ökosystem Erfolg hat? Welche Skaleneffekte will man erreichen, wie weit soll der Kreis erweitert werden, wer darf dazu kommen? Möchte man auch Konkurrenten ins Boot holen? Und was passiert, wenn ein Mitglied aussteigen will? Solche Fragen muss man ganz am Anfang bereits klären.

Und auch formal festhalten?

Genau. Ich würde sogar behaupten, dass manches Ökosystem gar nicht erst gegründet worden wäre, wenn die Beteiligten alle Konsequenzen durchgedacht und auch das nötige Commitment sauber definiert hätten. Das kommt in der anfänglichen Euphorie, wo man zusammenspannt, und alle denken, dass sie nur gewinnen können, oft zu kurz.

Ökosysteme scheinen im öffentlichen Bereich öfters erfolgreicher zu sein. Warum?

Weil man im öffentlichen Bereich auf Konsens angewiesen und darum viel stärker gewohnt ist, auf die Interessen verschiedener Parteien einzugehen und entsprechende Lösungen auszuarbeiten. Dazu kommt eine ausgeprägte Vorsichtshaltung: Man versucht, Risiken vorauszusehen und ihre Folgen durchzudenken. Das mag einem schnellen Vorwärtskommen anfänglich hinderlich sein, aber langfristig steigert es die Überlebenschancen deutlich.

 

 

Michael Hilb

Prof. Dr. Michael Hilb ist Unternehmer, Mitglied mehrerer Verwaltungs- und Stiftungsräte sowie Dozent für Strategie, Unternehmertum und Corporate Governance an mehreren Universitäten in Europa und Asien.

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