Judith Bellaiche war mit ihrem Engagement für ICT-Themen in Bundesbern lange eine Ausnahme. Dann kam der KI-Boom und alles ist anders geworden. Warum das für die GLP-Nationalrätin und Geschäftsführerin von Swico nicht nur gute Seiten hat, erklärt sie in unserem Interview.
asut: Mehr als ein Dutzend Vorstösse im vergangenen Jahr in beiden Räten: Die Digitalisierung ist im Parlament angekommen. Warum hat es so lange gedauert?
Judith Bellaiche: Digitalisierung galt im Parlament lange als Nischenthema. Ihre bahnbrechende Bedeutung für unsere Gesellschaft haben nur wenige vorausgesehen. Mit ChatGPT hat sich das nun Knall auf Fall geändert: Denn jetzt befindet sich die KI, die vermeintlich vor sich hin dümpelte und die Menschen nicht gross beeindruckte, plötzlich auf einer exponentiellen Kurve. Und deshalb wollen das nun alle zum politischen Thema machen. Das hat positive und negative Seiten, aber klar ist: Die Digitalisierung ist aus ihrem politischen Dornröschenschlaf erwacht.
Was sind die negativen Seiten?
Bei den meisten Vorstössen, die nun eingereicht werden, geht es einzig um Regulierung. Der Refrain ist immer derselbe: Wir müssen regulieren, regulieren, regulieren. Stattdessen könnten wir uns grundsätzlich die Frage stellen, welche Rolle die Schweiz in dieser Digitalisierungsthematik spielen will. Das könnte ja durchaus auch eine konstruktive Rolle sein. Hingegen sehe ich in der Politik hauptsächlich eine Angstreaktion.
Sie sind gegen Regulierung?
Überhaupt nicht, ganz ohne Regulierung geht es nicht. Aber Regulierung um der Regulierung willen ist schlecht, vorallem wenn sie einseitig angstgetrieben ist. Sie müsste auch chancengetrieben sein.
Können Sie das ausführen?
Für mich gibt es beim Thema Digitalisierung zwei Seiten. Die eine ist die Innovationsperspektive. Die Schweiz ist eine Gründernation, eine Innovations- und Wissensnation. Unser Wissen ist ja der einzige Rohstoff, über den wir verfügen. Da sind wir stark: Wir haben viele der besten Unternehmen, der besten Hochschulen, der besten Leute. Also müssten wir uns gegenüber neuen Entwicklungen wie der KI zuerst einmal fragen, wo es für den Digitalstandort Schweiz Innovationschancen gibt. Grundsätzlich sind diese nämlich gewaltig.
Die zweite, die Regulierungsperspektive, hängt im Wesentlichen von der ersten ab. Es geht darum, unser Regulierungswerk so zu gestalten, dass möglichst viel Innovationspielraum, aber auch Rechtssicherheit geschaffen wird. Gerade letztere ist ungeheuer wichtig: Denn Unternehmen siedeln sich dort an, wo klar ist, wie der Datenschutz geregelt, wie Haftungsfragen ausgelegt und wie Risikobetrachtungen gehandhabt werden. Doch genau da haben wir in der Schweiz zurzeit ein grosses Manko.
Weshalb?
Weil der Bundesrat in einer Art Verweigerungshaltung verharrt und das Thema Digitalisierung am liebsten unter den Teppich kehren würde. Er sieht in Bezug auf die Regulierung der Digitalisierung keinen Handlungsbedarf, und begnügt sich damit, die aktuellen Entwicklungen in der EU zu beobachten. Ich finde das bedenklich: So manövrieren wir uns in eine Position, in der wir keinen Handlungsspielraum mehr haben. Der digitale Raum und digitale Geschäftsmodelle sind per Definition grenzüberschreitend. Was die EU in diesem Bereich reguliert, wirkt sich in aller Regel auch auf die Schweiz aus. Deshalb finde ich, dass wir bei der Entwicklung der Spielregeln zumindest mitreden, wenn nicht sogar eine aktive Rolle übernehmen sollten.
ChatGPT im Bundeshaus in Bern (created by DALL.E2)
Was wäre denn so schlimm daran, die Digitalstrategie der EU zu übernehmen?
Allem voran ist es eine verpasste Chance, wenn ein Innovationsstaat wie die Schweiz ihre Position im internationalen Kontext nicht frei definiert und ihre Stärken ausspielt. Mit unserer passiven Haltung manövrieren wir uns in die Defensive, wo uns nichts anderes übrigbleibt, als ausländisches Recht nachzuvollziehen. Das entspricht einem massiven Souveränitätsverlust. Die Regulierungsansätze der EU schiessen, gerade im KI-Bereich, oft übers Ziel hinaus, weil sie zu stark auf die Risiken fokussieren oder in die Freiheit eingreifen. Zum Beispiel der Data Act, mit dem Unternehmen verpflichtet werden sollen, ihre Daten – also die eigentliche Grundlage ihres Geschäftsmodells – zu teilen, was verständlicherweise zu Verunsicherung führt. Oder die Chatkontrolle, mit der alle digitalen Kommunikationskanäle systematisch überwacht werden sollen.
Sollte die Schweizer ICT-Branche in die Bresche springen und eigene Regeln definieren?
Eigenverantwortung ist ein liberales Ansinnen, das ich grundsätzlich befürworte. Der Branchenverband Swico hat entsprechende Verhaltenskodizes und Handlungsempfehlungen erarbeitet und vorgelegt, die insbesondere im Umgang mit KI auf Transparenz setzen. Langfristig dient ein eigenverantwortliches Vorgehen der Branche sicher dazu, einen vertrauenswürdigen Dialog mit der Politik und gegenseitiges Verständnis aufzubauen. Das ist die Grundlage für vernünftige Regulierungsbestrebungen. Fehlt dieses Vertrauen, dann schwingt das Pendel gerne in die falsche Richtung und die Regulierung schiesst über das Ziel hinaus. Die Credit-Suisse-Pleite zeigt das exemplarisch: Hier wurde – aus Mangel an Eigenverantwortung – so viel Vertrauen verspielt, dass nun alle, Politikerinnen und Politiker jeder Couleur, mehr Regulierung fordern.
Wie geht es weiter?
Der Silberstreifen am Horizont war für mich die letzte Session. Da hat der Nationalrat meine Motion überwiesen, die vom Bundesrat verlangt, sich endlich ernsthaft mit dem Digitalthema und der EU-Regulierung auseinanderzusetzen. Vor zwei Jahren wäre das wohl kaum möglich gewesen. ChatGPT hat mir da sehr geholfen.
Ich hoffe sehr, dass die politische Orientierungslosigkeit bald ein Ende findet. Denn diese schafft sehr viel Verunsicherung. Für die Unternehmen, die nicht wissen, in welche Richtung es geht: Ob die Schweiz europäisches Recht übernehmen, vielleicht doch noch eine eigene Rechtsgrundlage oder – im schlimmsten Fall – einen «Swiss Finish» schaffen wird. Und für die Zivilgesellschaft, die Konsumentinnen und Konsumenten, deren Vertrauen in die Digitalisierung und insbesondere in die KI untergraben wird.
Sie haben von den Chancen der KI gesprochen. Denken Sie, dass sie uns dabei helfen könnte, eines unserer grössten aktuellen Probleme zu bewältigen: die Klimakrise?
Ohne Technologie werden wir die Klimawende nicht schaffen. Und in den allermeisten Fällen wird die Digitalisierung sogar die treibende Kraft sein. Die Dekarbonisierung erfordert den Umstieg von fossilen Energieträgern auf erneuerbare Energie. Diese wird jedoch dezentral produziert: Solarpanels auf den Dächern, Stauseen in den Alpen, Windräder im Jura liegen weit auseinander, sind von Wind und Wetter abhängig, und liefern deshalb nicht immer genau dann Strom, wenn wir ihn brauchen. Um das alles zu steuern und auszugleichen, brauchen wir Intelligenz im Netz, gute Daten und das nötige Know-how, um sie auszuwerten. KI wird dabei eine wichtige Rolle spielen.
Und wie steht es um die Nachhaltigkeit der ICT-Branche selbst?
Die Digitalbranche ist für 4 Prozent der CO2-Emissionen in der Schweiz verantwortlich. Das ist zwar nicht übermässig viel, aber soll keine Ausrede sein: Wir müssen daran arbeiten, dass die Digitalbranche das Netto-Null-Ziel auch selber umsetzt. Das Bewusstsein dafür ist da: Nächstes Jahr feiert Swico 30 Jahre eigenverantwortliches und sauberes Recycling von Elektroaltgeräten. Dank dieser Kreislaufinitiative können pro Jahr rund 3 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden. Bei der Hardware sind wir also bereits Musterschüler, sogar weltweit. Jetzt müssen wir auch in den anderen ICT-Bereichen besser werden.