Ist die Digitalisierung der perfekte Sturm, der unaufhaltsam über uns hereinbricht? Stephan Sigrist, Gründer und Leiter des Schweizer Think Tanks W.I.R.E., plädiert für mehr gesunden Menschenverstand, kritisches Denken – und Gelassenheit: Wir müssen uns Zeit nehmen für eine langfristig vorausschauende, kluge Analyse und manchmal auch den Mut haben, Dinge nicht zu tun.
Gewiss, sie lasse sich nicht aufhalten, aber einen gewissen Handlungsspielraum könnten wir uns auch inmitten der entfesselten Digitalisierung zurückerobern und sogar lernen, auf der Welle zu reiten, meint Stephan Sigrist. Auf der Welle reiten lernen, heisst für ihn, einen Weg finden, damit Wirtschaft und Gesellschaft gemeinsam von der Digitalisierung profitieren können. Denn nur dann werde sie zur Chance für Wachstum, Prosperität und eine erfolgreiche Positionierung der Schweiz.
Um was geht es in der Digitalisierung: Darum Daten zu generieren, Daten zu verarbeiten, unstrukturierte Datenmengen in strukturierte Daten zu übersetzen und für Rechensysteme zugänglich zu machen. Es geht um das Speichern und Übermitteln grosser Datenmengen, um immer neue innovative Quantencomputer, Blockchain und DNA als Speichermedium. Aber das ist nur die technische Infrastruktur: Im Kern stehen für Sigrist die Anwendungsfelder: «Automatisieren, virtualisieren, über weite Distanzen kommunizieren, Menschen vernetzen und im Internet der Dinge Maschinen mit anderen. Es geht ums schnelle Realisieren, beispielsweise mithilfe des 3D-Drucks. Wir sind schneller und effizienter geworden. Daraus ergeben sich Potenziale, die wir nutzen können, aber auch Herausforderungen.» Das Versprechen der Digitalisierung sei es, mithilfe von automatisierten Systemen das Leben einfacher zu machen, die Lebensqualität zu erhöhen und uns zu helfen, bessere Entscheide zu treffen. Im Kern strebe sie nach der perfekten Marktwirtschaft, in der Angebot und Nachfrage genau und reibungslos aufeinander abgestimmt sind.
Das Versprechen der Digitalisierung: Selbstgesteuerte Autos fahren unfallfrei über eine Kreuzung ohne Strassenschilder.
Es gibt aber auch Spannungsfelder. So werden primär diejenigen Prozesse automatisiert, die eine überschaubare Komplexität haben, d.h. meist die einfacheren, repetitiven Tätigkeiten. Das bedeutet aber auch, dass alle diese standardisierten Prozesse stark homogenisiert sein werden: «Wir werden sehr viel vom Gleichen sehen», meint Sigrist. Digitale Systeme, wie beispielsweise Spotify, seien zwar sehr effizient, schlügen uns aber auch immer wieder das Gleiche vor, nämlich die Art von Musik, die wir bereits kennen und gerne hören. Überraschungen, Vielfalt gibt es keine, weil der Algorithmus immer die logischste Verbindung macht. Eine weitere Herausforderung sei, dass wir es weniger mit einer Informations- als mit einer Datengesellschaft zu tun hätten. Einer Unmenge von Informationen stehe die Schwierigkeit gegenüber, zu entscheiden, welche davon verlässlich seien und welche nicht: «Es gibt einen Tipping Point, wo mehr Information nicht zu besseren, sondern zu schlechteren Entscheidungsgrundlagen und weniger Glaubwürdigkeit führt», sagt Sigrist, und das könne für Demokratien wie auch für Unternehmen zu einem grundlegenden Problem werden. Als dritten kritischen Punkt nennt er, dass mit der Vernetzung zwischen Menschen zwar eigentlich die Möglichkeit bestehe, neue Gemeinschaften zu schaffen, dass aber auch hier der Algorithmus mit seiner Tendenz, immer nur Gleichgesinnte in ihrer Filterblase zusammenzuführen, die Öffentlichkeit am Ende einschränke und das Verständnis und die Solidarität zwischen unterschiedlichen Gruppen untergrabe.
Dort wo es Reibung gibt, kann Neues entstehen. Sigrist ist überzeugt, dass aus diesen Herausforderungen profitable Innovationen hervorgehen könnten. Allerdings nur dann, wenn Gesellschaft und Marktwirtschaft zusammenspielen. Das setze neben technischen Fähigkeiten eben auch einen breiteren Blick voraus, es bedeute kluge Früherkennung, ein neue Art der (Schul-)Bildung, den Einbezug von Geistes- und Sozialwissenschaften. Computer aus und Kopf an, also: Denn eine erfolgreiche, eine gesellschaftsverträgliche Digitalisierung könne nicht eine rein technische Angelegenheit sein. Zum Verständnis davon, was die Technologie leisten kann, gehört deshalb auch die kritische Frage, welche dieser Leistungen sich in eine wünschbare, gesellschaftsverträgliche Zukunft integrieren lassen und welche eher nicht. Und die entsprechenden regulatorischen Grundlagen, ethischen Massstäben und sozialen Anpassungen: Dann werden wir lernen, sie zu reiten, die Welle der Digitalisierung.