Grusswort von Walter Thurnheer
"The Digital Future" ist das Thema. Doch die Zukunft, wie Sie wissen, ist ein fremdes Land. Wer klug ist, so sagt man, wenn es darum geht, den Weg nach vorne abzustecken, prüft seine Lage. Und wer noch klüger ist, schaut zuerst zurück. Aber versuchen Sie einmal, auf diese Weise ein Auto zu fahren. Nicht jede Tätigkeit lässt sich stetig in die Zukunft extrapolieren. Ihre hier auch nicht. Die Zukunft ist anders, und in der Zukunft versteht man, was anders ist, auch anders. Oder wie man im analogen England sagte: "The future is a foreign country. They do things differently there", (L.P. Hartley, The Go-Between).
Und selbst wenn ich die Zukunft kennte: Nehmen sie an, ich hätte Ihnen vor fünf oder sechs Jahren, hier in diesem Rahmen vorausgesagt: Meine Damen und Herren, es wird nicht mehr lange dauern, dann wird in Syrien ein grauenhafter Bürgerkrieg ausbrechen; bald werden Sie 1,4 Millionen neue Flüchtlinge pro Jahr in Europa haben. In Frankreich ereignen sich ungeheuerliche Attentate, über Monate gelten Notstandsgesetze; in der Ukraine stehen russische Truppen; in Grossbritannien wird über den Austritt aus der EU entschieden und in den USA wird Donald Trump republikanischer Präsidentschaftskandidat. Was hätten Sie gedacht? Gebt ihm den Früchtekorb und lasst ihn weiterziehen!
Die Mauer fiel, das Web kam auf
In der Technologie, vor allem in der Kommunikationstechnologie, waren die Entwicklungen der letzten 25 Jahre so radikal und so umfassend, dass 1990 kaum jemand eine richtige Prognose gemacht und kaum einer eine richtige Prognose geglaubt hätte – selbst wenn diese von der Bundeskanzlei formuliert worden wäre. Sehr vieles davon hat unser Leben verändert. Und wer weiss, vielleicht werden sich die heutige und die künftigen Generationen dadurch unterscheiden, dass die eine das Jahr 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer in Zusammenhang bringt, und die anderen mit der Einführung des World Wide Web.
Lassen Sie mich deshalb, statt im Futur über neue technologische Innovationen zu spekulieren – was ja etwas modisch geworden ist, auch wenn es in der Regel aber trotzdem anders herauskommt –, ein paar Überlegungen zum politischen Präsens anstellen. Denn auf kaum einem anderen Gebiet werden gegenwärtig mehr und wichtigere Fragen zur Rolle des Staates gestellt als im Bereich der digitalen Entwicklung. Was soll der Staat sicherstellen, was soll er regulieren? Wie soll er regulieren? Was soll er fördern? Was soll er schützen? Wie soll er schützen? Was soll er ahnden, wofür soll er haften? Es sind keine einfachen Fragen. Thomas Friedman, der Kolumnist der New York Times, sagte hier in Bern vor einigen Jahren zur digitalen Entwicklung zurecht: "For the consumers this change is wonderful, great and cheap. But for leaders, for any leaders, it will be difficult and heavy." Deshalb hier nur ein paar persönliche und sehr holzschnitzartig zusammengefasste Gedanken, wie die Herausforderungen thematisch strukturiert werden könnten:
Zuerst einmal:
Bei allen Bedenken über mögliche Risiken der digitalen Entwicklung, welche zum Teil sehr berechtigt sind, zuweilen aber auch mit jener säuerlichen Nachdenklichkeit vorgetragen werden, die für unsere Breitengrade nicht untypisch ist, gilt es meines Erachtens in erster Linie zu unterstreichen, welche ungeheuren Möglichkeiten sich durch die technologischen Fortschritte der letzten Jahre eröffnet haben. Welche völlig neuen Formen der Kommunikation, welche gewaltigen wirtschaftlichen Potenziale, welche Beschleunigungen und welche bis vor Kurzem noch unvorstellbaren Dienstleistungen dadurch abrufbar geworden sind. Ich vermisse diese positive Gewichtung manchmal in der Schweiz. Es scheint teilweise vergessen worden zu sein, um nur ein Beispiel zu nennen, wie wir früher jedem guten Buch hinterherrennen, es irgendwo, nach längerem Warten, Bestellen oder Anstehen, einsehen oder für teures Geld erstehen mussten, wie wir ungeduldig vor der flackernden Kopiermaschine Stunden verbracht haben, um gute "Papers" zu kopieren, wie weit wir reisen mussten, um kompetenten Fachleuten zuzuhören. Und wie unendlich viel schneller und wesentlich billiger wir heute Zugang zu Wissen erhalten, zu jedem beliebigen Thema ein klärendes Video herunterladen oder uns in einen Chatroom einloggen können. Und vor allem: dass Millionen von Menschen in ärmeren Ländern, welche noch bis vor zehn Jahren von einer Ausbildung völlig ausgeschlossen waren, heute in der Lage sind, beste Vorlesungen von Eliteuniversitäten zu verfolgen. Das ist eine unglaubliche Verbesserung und ein Segen, allein in diesem kleinen Bereich (gemessen an der Weite des Spektrums digitaler Möglichkeiten), den sich jeder zwei Mal pro Tag deutlich vor Augen führen sollte, bevor er glaubt, an den digitalen Risiken verzweifeln und mit einem elitär verregneten Gesicht über die angeblich ohnehin internet- und videosüchtige Jugend lamentieren zu müssen.
Zweitens,
der Staat ist gut beraten, wenn er auf seinem Gebiet eine leistungsfähige digitale Infrastruktur sicherstellt. Man geht davon aus, dass gut ein Drittel des Wertschöpfungswachstums der vergangenen Jahre aus der zunehmenden Nutzung von ICT stammt. Dieser Anteil dürfte noch zunehmen. Für die Wirtschaft wird insbesondere ein verlässliches Netz eine unbedingte Voraussetzung. Und für die Bevölkerung zu einem Teil dessen, was bis vor Kurzem vielleicht noch als Komfort wahrgenommen wurde, inzwischen aber bereits als Anspruch formuliert wird. Im letzten Herbst eröffnete ich meinen Kindern, dass wir nach Südfrankreich in die Ferien verreisen würden. Hätte man mir als Kind Ähnliches gesagt (was nicht der Fall war, der Perimeter unserer Ferien reichte bis in die Ostschweiz), so hätte ich gefragt: Wohin genau? Ans Meer? Hotel, Ferienwohnung? Hat es einen Swimming Pool? Unsere Kinder reagierten nur mit einer einzigen Frage: "WIFI?" Noch vor zehn Jahren bedeutete Grundversorgung, eine Poststelle zu Fuss oder mit dem öffentlichen Verkehr erreichbar innerhalb von 20 Minuten für 90 Prozent der Bevölkerung. Das gilt zwar heute noch, aber wenn Sie heute in die Surselva fahren, werden Sie von einem Nationalrat empfangen, der Ihnen freundlich die Hand gibt, dann aber nicht über die Post spricht, sondern fragt: "Weshalb haben Sie bei sich in Bern eine Downloadrate von 50 Megabit pro Sekunde, und wir haben nur zwei?" Eine qualitativ hochstehende Netzinfrastruktur wird für eine innovative Volkswirtschaft unerlässlich, ein chancengleicher, kostengünstiger, diskriminierungsfreier Zugang zu diesem Netz eine politische Erwartung.
Drittens.
Wie alle anderen Infrastrukturen von nationaler Bedeutung ist auch eine schnelle und verlässliche Netzwerkinfrastruktur nicht billig. Und sie schafft Abhängigkeiten. Beides muss der Staat bedenken. Denn viele Dinge der digitalen Zukunft, die wir im Alltag brauchen werden, sind komplex und miteinander verknüpft. "Complexity and Coupling" bedeuten ein grösseres Risiko. Ich weiss, ein Ausfall im Netz ist unwahrscheinlich. Aber auch nicht unmöglich. Sie kennen vielleicht die Geschichte, welche wie eine Metapher dafür steht: CERN, Large Hadron Collider, Entdeckung des Higgsboson – allen hier ein Begriff (sollte es wenigstens): Es ist die grösste und eine der teuersten Maschinen der Welt, und sie steht teilweise in der Schweiz. 26,7 Kilometer lang, 50 bis 175 Meter unter dem Boden, Ultrahochvakuum in den Röhren, etwa 10-14 bar. Überall bestückt mit riesigen Magneten, welche auf minus 271 Grad Celsius heruntergekühlt sind. Protonen, die auf 99,9 Prozent der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden. Pakete à ca. 100 Milliarden Protonen, welche in einer Frequenz von 10 kHz, also 10 000-mal pro Sekunde rund herum rasen, gewaltige Detektoren Atlas, CMS, Alice. Allein die Datenmenge des CMS-Detektors ist mit mit einer 70-Megapixel-Kamera vergleichbar, die 40 Millionen Bilder pro Sekunde schiesst. Kein Datenspeicher auf der Welt existiert, um alle gesammelten Daten am LHC aufzunehmen, weshalb die Rechner bei jedem Test den digitalen Tsunami schon in den ersten Nanosekunden sichten und ca. 99,9 Prozent davon aussortieren. Also eine gewaltige Technologie, über Jahre aufgebaut, immer wieder getestet, gesichert und nochmals getestet, dann geprüft und abgenommen und langsam hochgefahren. Und dann, vor wenigen Wochen, kommt ein Marder (ich glaube, es war ein französischer Marder, also ein typisches Beispiel einer Grenzgängerproblematik), der irgendwo in der Erde nahe dem LHC einige Kabel durchfrisst. Und der ganze Beschleuniger liegt für Tage am Boden. Ich meine damit nicht unbedingt, dass dem Internet ein Marderangriff bevorsteht (oder noch schlimmer, dass der Wolf in der Schweiz auch noch für den nächsten Ausfall verantwortlich ist). Aber ich frage, welche Vorkehrungen vom Staat getroffen werden sollen, wenn seine Wirtschaft und überhaupt das Funktionieren seiner Gesellschaft derart vom Funktionieren einer digitalen Netzinfrastruktur abhängig sind, für den Fall, dass das Unwahrscheinliche eben doch eintritt. Wer hat noch die Übersicht, welche Systeme alle miteinander verknüpft sind? Welche Algorithmen welche Wirkung erzielen? Wer kann und soll das Risiko abschätzen, und dann eingrenzen? Wie viel Redundanz ist verhältnismässig? Welches Niveau von Sicherheit stellt man wofür genau zur Verfügung? Die Netzinfrastruktur muss schnell sein. Sie muss flächendeckend sein. Aber die Verletzlichkeit und damit die Gewährung der Sicherheit dürfte ein zentrales Element der Diskussion und der Vorsorge bei der Netzinfrastruktur werden.
Viertens.
Und in diesem Zusammenhang ein anderer Aspekt: Die digitalen Möglichkeiten haben an einigen Orten der Welt geholfen, gleich mehrere technische Zwischenschritte zu überspringen. In Afrika zum Beispiel sind so "Phone based Banking Systems" entstanden, welche erstmals bargeldloses Zahlen ermöglicht haben. Das ist wunderbar! Aber, um es etwas verkürzt zu sagen, auch wenn Sie mit dem iPad einen Kühlschrank auswählen, bestellen und bezahlen: Man muss ihn auch über eine Strasse zu Ihnen transportieren können. Und wenn Sie ihn in der Küche aufstellen, müssen Sie ihn an ein Stromnetz anschliessen. Mit anderen Worten, der Staat, auch bei uns, tut gut daran, die digitale Infrastruktur auszubauen, den "Gap" zur "klassischen Infrastruktur" aber nicht zu gross anwachsen zu lassen. Diese Infrastrukturen ersetzen sich nicht, zumindest nicht vollständig. Sie ergänzen sich.
Fünftens.
Der Staat braucht eine gesamtheitliche und zukunftsorientierte Datenpolitik. Bisher lag der Fokus vor allem bei "traditionellen" Themen wie Datenschutz, Zugang zu Datenclouds, Anforderungen an die Stabilität des Betriebs und an die Sicherheit vor dem Zugriff unberechtigter Dritter oder auf der wettbewerbsrechtlichen Regulierung marktbeherrschender digitaler Plattformen. Nur schon am Beispiel des in einem ganz anderen Umfeld als heute konzipierten Datenschutzes zeigt sich aber deutlich, vor welchen Herausforderungen wir heute stehen: Artikel 13 Absatz 2 der Bundesverfassung: "Jede Person hat Anspruch auf Schutz vor Missbrauch ihrer persönlichen Daten." Wie setzen Sie das um in einer Zeit, in der immer mehr User bereit sind, Dienstleistungen statt mit Franken und Rappen mit "persönlichen Daten" zu bezahlen? Sei es bedenkenlos, sei es, weil die fragliche Leistung in anderer Währung gar nicht zu kaufen ist? Wo setzen Sie den Hebel an, wenn Algorithmen aus kleinen, scheinbar belanglosen Angaben, aus Metadaten und weit verstreuten Einzelheiten ein scharfes, aussagekräftiges Gesamtbild rekonstruieren können? Ein Gesamtbild, welches heute zuweilen bedenklich euphemistisch "Nutzerprofil" genannt wird (früher nannte man das "eine Fiche"). Wie reagiert ein Staat, wenn er davon ausgehen muss, dass über viele Bürgerinnen und Bürger des Landes bei Behörden anderer Staaten weit mehr bekannt ist, als dies im eigenen Land von Gesetzes wegen der Fall sein dürfte? Wie viel Kontrolle über die eigenen Daten geben Sie dem Bürger und der Bürgerin zurück, und wie stellen Sie sicher, dass er und sie diese Kontrolle auch tatsächlich ausüben können.
Es ist nicht so, dass ein Kompass komplett fehlt, aber es ist noch einiges zu tun, und was immer Sie tun, Sie stehen permanent unter Veränderungsdruck. Nehmen Sie die Entwicklung der Clouds, nehmen Sie das Verschmelzen von Biologie und ICT oder das Internet der Dinge. Die Technologie war und ist einer der meist unterschätzten Treiber der Politik. Und bei diesem Tempo und dieser Wirkung der digitalen Entwicklung ist die Zusammenarbeit zwischen Regulator, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik besonders wichtig. Vielleicht brauchen wir ganz neue und schnelle Wege der Zusammenarbeit, um hier sinnvoll zu regulieren. Denn in keinem anderen Bereich der Politik dürfte das Spannungsverhältnis zwischen "Schutz" und "Nutzen" mittelfristig so kontrovers und intensiv diskutiert werden wie hier. Der Staat muss eine Politik definieren. Mit Umsicht, und trotzdem früh genug und mit fachlicher Kompetenz. Und er sollte sich, wie bei jeder Regulierung, auf das Notwendige beschränken. Das ist einfacher gesagt als getan.
Sechstens.
Die digitale Zukunft wird zum grössten Teil international reguliert werden. "Sicherheit", "E-Commerce", "Urheberrecht", "Internet Domains", "Terrorismusbekämpfung, "Börsenhandel" usw. lassen sich im digitalen Bereich gar nicht ausschliesslich national regeln, schon weil der Staat keinen oder nur einen begrenzten Zugriff auf die entsprechenden Unternehmen und Einrichtungen hat. Globalisierung und Digitalisierung bedingen ein übernationales Regelwerk. Und die harte, normative Kraft der wirtschaftlichen Abhängigkeit, schafft zusätzlichen Druck. Während in der Klimapolitik sich einzelne Staaten noch zieren können (mit Betonung auf noch), und internationale Zusammenarbeit dort viel mit Geduld, Vernunft und Überzeugungsarbeit zu tun hat, bekommen bei der Digitalisierung jene Länder, die zögern, die wirtschaftlichen Folgen sehr rasch zu spüren. Nationale Gesetzgeber dürften somit auch auf diesem Feld zunehmend unter Druck geraten, entweder mitzuwirken oder ausgeschlossen zu bleiben. Vor 150 Jahren, als in der Schweiz die Eisenbahn landesweite Verbindungen ermöglichte, mussten die verschiedenen Uhrzeiten in der Schweiz vereinheitlicht werden. St. Gallen hatte und hätte, wenn man es genau nimmt (und man muss es gar nicht so genau nehmen), nicht zur selben Zeit Mittag wie Genf. Der bundesstaatliche Fahrplan setzte sich aus verständlichen Gründen darüber hinweg. Heute werden die Uhren wieder neu gestellt; einfach auf globaler Ebene. Die internationalen Vereinbarungen und Initiativen, insbesondere in Europa mit dem "Digital Single Market", haben in den letzten Jahren denn auch deutlich zugenommen.
Siebtens,
die digitale Zukunft wird auch das Verhältnis des einzelnen zur Gemeinschaft verändern. Der Staat wird davon betroffen sein. Bereits heute können Sie sich in Ihre persönliche Welt zurückziehen. Sie können auf individuellen Plattformen Ihre eigenen, sogenannten Freunde auswählen, und sie auch schnell wieder ausblenden. Sie bestimmen, welche spezifischen News man Ihnen zustellt. Sie konsumieren die auf Sie zugeschnittenen Unterhaltungssendungen. Sie leben abgeschirmt mit Gleichgesinnten in Ihrer virtuellen Blase oder besser in ihrem virtuellen Bläschen. Und viele schrecken geradezu auf, wenn bei ihnen der Nachbar an der Tür klingelt, weil der unangekündigte Besuch von Nebenan fremder erscheint, als ein Skype-Gespräch mit Australien. Oder überspitzt: "The Neighbourhood is a foreign country. They do things differently there."
Für eine Gemeinschaft, welche in einem gemeinsam geteilten – physisch, nicht virtuell geteilten – Territorium lebt und von vielen Gesetzen und Vorschriften, kulturellen Entwicklungen, wirtschaftlichen Trends, Katastrophen und anderen Erfahrungen betroffen bzw. dabei auch aufeinander angewiesen bleibt, ist es jedoch wichtig, über breite, umfassende Plattformen zu verfügen. Eine Gesellschaft muss sich abgleichen können, sich austauschen und dadurch neu eichen, neu definieren und neu ausrichten. Schon heute werden Volksabstimmungen und Wahlen zunehmend nicht nur zu einem Mittel der demokratischen Partizipation. Sie werden zu einem der wenigen (vom Staat bereitgestellten, öffentlichen) grossen Plätze, auf dem alle Bürger regelmässig wichtige gesellschaftliche Fragen diskutieren, Argumente austauschen und Menschen so einander näher gebracht werden können. "To share" – im wirklichen Leben – ist eben mehr als eine Option auf dem Handy, um seine Instagram Community mit Selfies zuzuschütten. "To share" hat in einer Gesellschaft mit echten Kontakten zu tun, mit dem Teilen von Werten und Leistungen und dem Austausch von Meinungen, selbst mit Leuten, von denen man nicht von vornherein ausschliessen kann, dass sie allenfalls eine andere Meinung vertreten. Es ist meines Erachtens auch ein Missverständnis, wenn man von einem "sozialen" Netzwerk spricht, nur weil man sich gegenseitig Mitteilungen zustellen kann. Das ist vielleicht sozialer als nichts. Aber kein Chatroom ersetzt die Kaffeepause, welche Sie heute Morgen hoffentlich noch bekommen werden. Kein Facebook ersetzt die Spitex. Und kein Twitter ersetzt die Pfadi oder den Blauring. Wir müssen aufpassen, dass wir eine Zersplitterung in weit voneinander entfernte Kleinstgesellschaften verhindern. Und wir müssen überhaupt aufpassen, dass der Bürger im Verhältnis zum Staat sich nicht wie ein Kunde im Geschäft mit seinem Leistungserbringer wahrnimmt: Er zahlt zwar Steuern, möchte für diesen Preis aber auch sofort eine direkte Gegenleistung. Genau das ist eben das Gegenteil von sozial. In der digitalen Zukunft wird der Staat diesem Teil des gesellschaftlichen Zusammenhalts zusätzliche Aufmerksamkeit widmen müssen.
Meine Damen und Herren, die Gestaltung der Rahmenbedingungen, sowohl auf nationaler Ebene als auch in internationalen Organisationen, ist zwar eine grosse Aufgabe, sie ist aber überhaupt kein Grund, hilflos oder ohnmächtig auf die Sachzwänge zu warten, welche uns dann längerfristig die Leitplanken setzen würden. Wenn ein Land gute Voraussetzungen mitbringt, um national oder international diese Gelegenheit in Perspektiven umzuwandeln, dann ist es die Schweiz. Wir sind innovativ, wettbewerbsfähig, haben unglaublich viele, kreative Köpfe in der Schweiz. Und wenn wir einen richtigen Venture-Capital-Markt und eine etwas weniger risikoaverse Finanzierungsbereitschaft hätten, dann würden solch kreative Köpfe in vielen KMU noch mehr Chancen haben. Wir haben gute Infrastrukturen, eine hervorragende Verwaltung (das sage ich natürlich ganz objektiv), einen funktionierenden Rechtsstaat und weitere attraktive Standortbedingungen. Die digitale Zukunft kann uns sehr viel bringen und erschliessen. Und wir alle hier können dazu einen Beitrag leisten. Aber wir müssen es auch wollen. Sie wissen, wir haben hierzulande eine gewisse Tendenz, in den kleinen Dingen sehr hektisch zu sein und in den grossen Dingen eher fatalistisch. Wir verhalten uns dann wie ein Mittelschüler, der seine Chemieaufgaben machen müsste und stattdessen beginnt, akribisch sein Zimmer aufzuräumen. Das macht er zwar sehr gut, aber eigentlich sollte er etwas anderes tun. Die digitale Entwicklung ist so ein grosses Ding. Es wäre verhängnisvoll, wenn wir in diesem Bereich den uns zur Verfügung stehenden Spielraum nicht nutzen und stattdessen schulterzuckend zuschauen würden.
Die britische Zeitung "The Guardian" schrieb in diesem Zusammenhang: "The information technology revolution has changed the way human beings befriend each other, how they meet, date, communicate, medicate, investigate, negotiate and decide who they want to be and what they want to do. Many aspects of our online world would be unrecognizable to someone who was transplanted here from any point in the 20 th century." Es ist gut möglich, dass die digitale Revolution in ferner Zukunft als die prägendste Entwicklung zu Beginn des 21. Jahrhunderts bezeichnet werden wird. Und wir sind mitten drin. Es könnte auch anders kommen: Vielleicht werden uns das Klima, neue Viren oder neue Konflikte schlagartig und ein weiteres Mal vor Augen führen, wie wir uns täuschen können. Aber was es auch sein wird, die digitale Revolution, die neuen Mittel, über die wir damit verfügen, dürften eine entscheidende Rolle spielen, wie wir diese Zukunft, dieses uns noch fremde Land, betreten und zu unserem eigenen machen können.