90 Prozent aller Berufe, so eine viel zitierte Aussage, werden bald digitale Kompetenzen voraussetzen. Das haben sich in der Schweiz bereits viele Schulen zu Herzen genommen. Der Kanton Zug, nicht umsonst Sitz des «Crypto Valleys» gilt hier als besonders fortschrittlich. Was steckt dahinter? Ein Gespräch mit dem Zuger Erziehungsdirektor Stephan Schleiss.
asut: Allerorten wird betont, wie stark die Digitalisierung die Schule verändert. Sind Sie auch dieser Ansicht?
Stephan Schleiss: Meine Antwort lautet: Ja, aber. Natürlich macht die Digitalisierung auch vor der Schule nicht Halt. Es gibt eine ganze Reihe von neuen digitalen Medien, die es im Unterricht effizient einzusetzen gilt – gerade im Bereich der Lehrmittel findet also eine tiefgreifende Umwälzung statt. Hier sind insbesondere die Verantwortlichen vor Ort stark gefordert – der Kanton kann da nur koordinierend helfen.
Aber... ?
Gleichzeitig finde ich den inflationären Gebrauch des Schlagworts Digitalisierung manchmal etwas bemühend. Es lassen sich damit wunderbar Forderungen stellen und leere Versprechen machen – kein Politiker, der beweisen will, wie modern und aufgeschlossen er ist, lässt es sich nehmen, über die Digitalisierung zu schwadronieren. Was die Schule betrifft, so bleibt aber auch in Zeiten der Digitalisierung zentral, dass unsere Kinder lesen, schreiben und rechnen lernen. Und zwar nicht mit irgendeinem Gerätchen ganz allein oder sogar von zu Hause aus, sondern in einer Schule als Ort, wo Lernen gemeinsam und unter der Leitung eines Lehrers stattfindet. Soziales Lernen bleibt zentral. Für die musischen und haptischen Fächer wie Handarbeiten oder Werken gilt das erst recht.
Schulleitungen, Lehrerinnen und Lehrer sind stark gefordert, sagen Sie. Sind sie der Herausforderung gewachsen?
Es wirkt sich natürlich nun aus, dass alle auf den neuen Lehrplan gewartet haben, um den Bereich «Medien und Informatik» systematisch anzugehen. Dass der Lehrplan 21 mit vier Jahren Verspätung verabschiedet wurde, hat gerade in einem so schnelllebigen Bereich zu methodischen und inhaltlichen Defiziten geführt, die nun aufgearbeitet werden müssen.
Was heisst das konkret?
Es bedeutet, dass Lehrkräfte, die nicht frisch von der Pädagogischen Hochschule kommen, zwingend gewisse Nachqualifikationen erwerben müssen, um das Fach «Medien und Informatik», das in Zug ab dem Schuljahr 2019/20 auf dem Stundenplan steht, unterrichten zu können.
Will der neue Lehrplan aus den Schülerinnen und Schülern eher verantwortungsbewusste Konsumenten neuer digitaler Medien machen oder ihnen auch das informatische Rüstzeug in die Hand geben, um zu verstehen, was dahintersteckt?
Was Sie hier ansprechen, war der Gegenstand eines langen Richtungsstreites. Anfänglich ging es eher in Richtung Medienkunde und Medienkompetenz. Dass nun ist wesentlich auf den ETH-Professor Juraj Hromkovic zurückzuführen, der stark für die Einführung der Informatik und Algorithmik als Schulfach lobbyiert hat. Was nun im Lehrplan 21 vorgesehen ist, geht Hromkovic vielleicht noch nicht weit genug, aber es ist doch ein grosser Schritt in die gute Richtung. Ich bin überzeugt, dass Algorithmik in Zukunft neben Lesen, Schreiben und Rechnen zur vierten Kulturtechnik wird. Wichtig ist, dass das nicht auf Kosten der Mathematik geht.
Digitalisierung des Unterrichts heisst auch: Einsatz von digitaler Technik.
Im Kanton Zug sind die Gemeinden im operativen Bereich sehr autonom. Das bedeutet, dass jede von ihnen selber bestimmt, welche technische Ausrüstung sie anschaffen will. Dabei besteht sicher auch die Gefahr, dass zu viel in Geräte investiert, zu stark aufs Technische gesetzt wird und stattdessen die Lerninhalte vernachlässigt werden. Das Beispiel der Urner Primarschule Attinghausen, die es schafft, mit nicht sonderlich neuen Computern spielerisch die Grundsätze der Informatik zu vermitteln und damit Pionierarbeit leistet, zeigt deutlich, dass man sich nicht technisch verzetteln muss, um an vorderster Front der Entwicklung dabei zu sein.
Bei der Anschaffung von kostspieligen digitalen Geräten oder auch von Software in den Schulen springt immer öfter die Privatwirtschaft ein. Ist das nicht problematisch?
In Zug kooperiert die Pädagogische Hochschule Zug mit Samsung. Samsung stellt beispielsweise Tablets zur Verfügung und beteiligt sich finanziell an der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen. In diesem Fall funktioniert das hervorragend, weil die die Zusammenarbeit transparent geregelt ist. Solche Regulative tun aber sicher not. Der Lehrerverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) hat vor kurzem ein ausgezeichnetes Positionspapier zur Frage des Sponsorings in der Volksschule erarbeitet*. Problematisch erscheint darin übrigens nicht nur der Einsatz von technischen Geräten. Auch bei den Lehrmitteln besteht für die Schweiz als kleiner, fragmentierter Markt die Gefahr, dass die Volksschule von grossen proprietären Systemen abhängig wird.
Den Datenschützern bereitet das Schulsponsoring ebenfalls Sorgen.
Auch hier geht einiges: Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) arbeitet an einer digitalen Identität für alle Schülerinnen und Schüler. Das würde zur Lösung der Herausforderungen beitragen, denen das Bildungssystem im Bereich von Datenschutz und Datensicherheit ausgesetzt ist. Aber auch hier ist längst nicht nur der Einsatz von digitalen Geräten heikel. Wenn es um die Erhebung von Daten geht, ist die Schule Zielscheibe aller möglichen Begehrlichkeiten: Bundesämter, Hochschulen, alle möchten mit oft durchaus legitimen Absichten an die Daten der Schülerinnen und Schüler herankommen.
Mit der Digitalisierung verändern sich auch die Berufsbilder. Wie kann die Schule von heute die Kinder auf eine Welt von morgen mit Berufen vorbereiten, die es heute noch gar nicht gibt?
Es ist nicht die Aufgabe der Schule, die Lernenden für einen spezifischen Beruf fit zu machen. Sie muss ihnen überfachliche Kompetenzen vermitteln, die es ihnen später ermöglichen, sich je nach Bedarf zu spezialisieren. Gerade in dieser Hinsicht ist das duale Schweizer Berufsbildungssystem besser gerüstet, als andere. Ich sehe die Zukunft deshalb überhaupt nicht düster.
Ein international beachtetes Crypto Valley mit einer dynamischen Fintech-Start-up-Szene, die weltweit erste Blockchain-Identität für die Bewohnerinnen und Bewohner sowie eine Pädagogischen Hochschule, deren EdLab an der digitalen Bildung von morgen tüftelt – Zug scheint die Digitalisierung besonders gut zu meistern. Woher kommt das?
Zug hat hervorragende Standortbedingungen, es ist politisch stabil, steuerlich attraktiv und verfügt über gut ausgebildete Fachkräfte. Ganz wesentlich ist meiner Meinung nach aber insbesondere, dass Zug klein ist: Nur kleine, dezentrale Gebilde sind agil genug, um sich in einer globalisierten Welt behaupten zu können. Zug ist offen für Neues und sehr international – gleichzeitig aber klein genug, damit sich die Leute auf der Strasse noch kennen.
(*siehe dazu auch: Charta des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) zum Bildungssponsoring an öffentlichen Schulen).