Vier Thesen zur Jugend 4.0

Müssen alle Kinder und Jugendlichen programmieren können? Nein, sagt die Eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen. Sicher müssten sich alle ein genügendes technisches Verständnis aneignen, um mit Fragen der Datensicherheit und der digitalen Privatsphäre bewusst umgehen zu können. Doch genau so wichtig sei es, die Kompetenzen zu fördern, die den Menschen von der Maschine abheben.

Pünktlich zu ihrem 40-jährigen Jubiläum publiziert die Eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen (EKKJ) vier teilweise provokative Thesen zum Einfluss der Digitalisierung auf Kinder und Jugendliche. Sie tut es mit Bedacht und mit dem Ziel, eine politische und gesellschaftliche Debatte zum Einfluss der Digitalisierung auf die jüngsten Mitglieder unserer Gesellschaft anzustossen.

These 1: Fit sein für die Digitalisierung heisst: Kinder und Jugendliche entwickeln neben digitaler Denkweise und technischen Fähigkeiten insbesondere Sozialkompetenzen, Kreativität, Flexibilität und kritisches Denken.

Technische Kompetenzen werden aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung in der heutigen Lebens- und Arbeitswelt immer wichtiger. Anwenderkenntnisse allein («digital Use») genügen dabei nicht mehr, es braucht ein erweitertes Verständnis über Funktionsweisen und Prozesse («computational Thinking»), um kreativ mitzugestalten. Es müssen nicht alle programmieren können, aber alle sollten sich ein technisches Verständnis aneignen, nicht zuletzt, um mit Fragen der Datensicherheit und digitalen Privatsphäre bewusst umgehen zu können. Technische Kompetenzen allein genügen jedoch nicht, um mit der fortschreitenden Digitalisierung gut umgehen zu können. Für die Digitalisierung sind auch eine ganze Reihe von Handlungs- und Sozialkompetenzen wesentlich: Problemlösefähigkeit, Kreativität, Flexibilität, Veränderungsbereitschaft, Empathie, Selbstwirksamkeit, Selbstreflexion, kritisches und konstruktives Denken, Offenheit und Neugier.

Deshalb ist es aus Sicht der EKKJ wichtig, in der Ausbildung von Kindern und Jugendlichen den Fokus nicht allein auf technische Fähigkeiten zu legen («Alle Kinder müssen Programmieren lernen»), sondern insbesondere diejenigen Kompetenzen zu fördern, die den Menschen gegenüber technischen Geräten auszeichnen: Kreativität, Flexibilität, Sozialkompetenzen, kritisches Denken. Fit sein für die Digitalisierung heisst: Kinder und Jugendliche entwickeln neben digitaler Denkweise und technischen Fähigkeiten insbesondere Sozialkompetenzen, Kreativität, Flexibilität und kritisches Denken. Nehmen wir als Beispiel die Kreativität. Sie stellte schon immer eine wichtige Kompetenz dar und wird mit der Digitalisierung künftig noch mehr an Bedeutung gewinnen. Denn die Fähigkeit, unstrukturierte Systeme sinnvoll und kreativ zu strukturieren oder mit bestehenden Systemen kreativ zu verknüpfen, wird immer wichtiger. Kreativität lässt sich aber nicht auf Knopfdruck lernen. Kinder und Jugendliche brauchen auch freie und selbstbestimmte Zeit, um ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen und diese entwickeln zu können. Dazu braucht es ein gesellschaftliches Bewusstsein für die Bedeutung von freier, unverplanter Zeit für Kinder und Jugendliche und einen bewussten Umgang damit. Die Erhöhung der Unterrichtszeit und die in vielen Ausbildungswegen zunehmende Verschulung weisen in die entgegengesetzte Richtung und lassen der Kreativität und Eigenverantwortung der Heranwachsenden wenig Gestaltungsraum.
 

MTS: Internet Baby

 

 

These 2: Ausserschulischen und vorschulischen Settings und Akteuren kommt bei der Vermittlung von digitalen Kompetenzen eine ebenso wichtige Rolle zu wie der Schule.

Viele für die digitale Welt zentrale Kompetenzen werden ausserhalb der Schule erworben. Eltern oder andere Erziehungsberechtigte sind die ersten Ansprechpartner, wenn es um die Förderung von Medienkompetenzen geht. In der Familie ist der Umgang mit Medien ein wichtiges Erziehungsthema, das viele Eltern beschäftigt. Im Jugendalter beeinflusst zunehmend das weitere soziale Umfeld den Umgang mit Medien und kann somit eine Rolle bei der Förderung von Kompetenzen spielen: der Kontakt mit Peers, Jugendverbände, die offene Jugendarbeit und andere Freizeitangebote.

Der ausserschulische Bereich spielt für den Erwerb digitaler Kompetenzen eine wichtige Rolle, weil er andere Lern- und Experimentierfelder bereithält, die andersartige Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Gerade Handlungs- und Sozialkompetenzen werden im ausserschulischen Bereich stark gefördert, da der Fokus dieser Settings oft auf Mitsprache, Teilhabe oder Beziehungsarbeit liegt. Häufig sind in diesen Angeboten unstrukturierte Probleme zu lösen, wobei grosser Freiraum bei der Umsetzung besteht. Ausserschulischen und vorschulischen Settings und Akteuren kommt bei der Vermittlung von digitalen Kompetenzen eine ebenso wichtige Rolle zu wie der Schule.

Der Bereich der non-formalen Bildung ist ein wesentliches Feld, um sich verschiedenste Kompetenzen anzueignen und sie zu üben, insbesondere auch die Risikokompetenz. Ohne Leistungsdruck der Schule kann hier spielerisch und alltagsnah an das Thema Digitalisierung herangegangen werden. Insbesondere für bildungsferne oder schulmüde Jugendliche können ausserschulische Settings (insbesondere die offene Jugendarbeit) hilfreich sein. Wesentlich ist dabei, dass die verschiedenen Akteure miteinander im Austausch sind, auch über die Sprachgrenzen hinweg, dass genügend finanzielle Mittel und Ressourcen für die Bearbeitung des Themenkomplexes Digitalisierung zur Verfügung stehen und eine Abstimmung mit dem schulischen Kontext erfolgt. Bei der Diskussion um den Erwerb von Kompetenzen ist es wesentlich, den vorschulischen Bereich ebenfalls mitzudenken, weil die Digitalisierung auch Teil der frühkindlichen Lebenswelt ist und diese beeinflusst. Frühe individuelle Förderung mit Hilfe von digitalen Medien kann zudem zur Reduktion von Ungleichheit beitragen und die Chancengerechtigkeit erhöhen. Wie die Bemühungen im MINT-Bereich zeigen, ist es von Vorteil, das Interesse früh und auf spielerische Weise zu wecken.

Die Schule leistet bei der Vermittlung von digitalen Kompetenzen einen wichtigen Beitrag. Das ist für die Chancengerechtigkeit fundamental. In den neuen Lehrplänen (Lehrplan 21 und PER) für die Volksschule ist der Erwerb von Medienkompetenzen und Informatikkenntnissen als Querschnittkompetenz in verschiedenen Schulfächern vorgesehen. Der kürzlich von der EDK verabschiedete Rahmenlehrplan Informatik sieht ein obligatorisches Unterrichtsfach am Gymnasium vor. Dazu muss jedoch kontinuierlich in die Weiterbildung der Lehrpersonen investiert werden und eine einheitliche Umsetzung ist nötig, damit alle Kinder und Jugendlichen in der Schweiz chancengerecht auf die Herausforderungen der digitalisierten Welt vorbereitet werden. Gleichzeitig bietet die Digitalisierung auch die Chance, neue ergänzende Unterrichts- und Bewertungsformen einzuführen. Die duale Berufsbildung ist eine zukunftsträchtige Stärke der Schweiz, die eine wirtschaftsnahe Ausbildung und zielorientiertes Lernen am Puls der Praxis ermöglichen. Durch das rasche Voranschreiten der Digitalisierung steht die Berufsbildung vor der Herausforderung, die Veränderungen in den Berufsbildern vorherzusehen und rasch und dynamisch in die inhaltliche Weiterentwicklung der Berufsbildung miteinzubeziehen. In diesem Kontext sollte der Schnittstelle zwischen Lehrbetrieben und Berufsschulen mehr Beachtung geschenkt werden, damit moderne Praxisstandards schneller in der schulischen Ausbildung Einzug halten können.

These 3: Nicht alle Kinder und Jugendlichen können von den positiven Aspekten der Digitalisierung im gleichen Mass profitieren. Deshalb braucht es spezifische Schutz- und Fördermassnahmen

Da rund 95 Prozent der Jobs eine digitale Komponente haben, kommen Kinder und Jugendliche heute kaum mehr darum herum, sich mit digitalen Technologien zu befassen. Nur wer technische Grundfertigkeiten mitbringt, kann aktiv die Zukunft mitgestalten. Die Digitalisierung beschleunigt und verstärkt die sozialen Entwicklungen. Um dabei entstehenden sozialen Ungleichheiten («digital Divide») zu begegnen, müssen unterstützende Massnahmen für Kinder und Jugendliche getroffen werden. Geschlecht, Bildungsmilieu und besonderer Bildungsbedarf sind drei Faktoren, die im Zusammenhang mit der fortschreitenden Digitalisierung ein besonderes Augenmerk bei Heranwachsenden erforderlich machen können.

Digitalisierung und Geschlecht

Es gibt einen Geschlechtergraben im Technologiebereich, der sich nicht wegdiskutieren lässt. Bereits im Jugendalter sind deutliche Unterschiede in den Nutzungsmustern und bei der digitalen Beteiligung von Jungen und Mädchen feststellbar. Dieser «digital Gender Gap» zeigt sich ebenfalls im Berufsalltag. Frauen machen eine klare Minderheit der Berufstätigen im Technologiebereich aus. Jungen und Mädchen können in Bezug auf die Digitalisierung unterschiedliche Fähigkeiten und unterschiedliche Risiken aufweisen. Deshalb ist es wichtig, dass Jungen und Mädchen ressourcenorientiert und ihren Fähigkeiten entsprechend spezifisch gefördert werden, dort wo sie es brauchen. Ausserdem muss in beide Richtungen gendersensibel gedacht werden, um sowohl die Bedürfnisse der Mädchen als auch der Jungen in den Fokus zu nehmen. Durch gegenseitigen Austausch können Unterschiede konstruktiv und für alle Seiten bereichernd angegangen werden.

Digitalisierung und Bildungsmilieu

Die Digitalisierung zieht einen Strukturwandel der Arbeitswelt nach sich, der sehr bildungsintensiv ist. Mit der fortschreitenden Digitalisierung sind bereits für einfache Jobs immer höhere Qualifikationen nötig. Arbeitnehmende müssen deshalb zunehmend besser qualifiziert sein, um im Arbeitsmarkt bestehen zu können. Die für Ungelernte verbleibenden Jobs sind wenig attraktiv und schlecht entlöhnt. Hinzu kommt, dass viele Jobs, die von bildungsfernen Arbeitnehmenden ausgeübt wurden, mit zunehmender Digitalisierung als erstes wegfallen. Bildungsferne Kinder und Jugendliche können dadurch gleich doppelt betroffen sein, durch ihr Bildungsmilieu und den drohenden Jobverlust eines Elternteils.

Auch in der Schweiz zeigen Zahlen, dass Menschen, die das Internet nicht oder kaum nutzen, überdurchschnittlich in gesellschaftlichen Gruppen mit niedrigerer Bildung und einem tieferen Haushaltseinkommen vertreten sind. Bildungsmilieu und Einkommensschicht haben, neben dem Geschlecht, einen wesentlichen Einfluss auf die Teilhabe an der digitalen Welt. Eine unterschiedliche Nutzung digitaler Medien abhängig vom sozioökonomischen Status (beispielsweise in Bezug auf genutzte Inhalte, Rechercheverhalten, Datenschutz und Privatsphäre) macht sich bereits im Jugendalter bemerkbar. Deshalb brauchen Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Familien besondere Aufmerksamkeit bei der fortschreitenden Digitalisierung, damit sie frühzeitig digitale Grundfertigkeiten erwerben. Auch bei einfachen Berufen sollten digitale Basiskompetenzen in der Ausbildung vermittelt werden, allenfalls auch mit berufsbegleitenden Angeboten. Bildungsfernen Kindern und Jugendlichen sollten Chancen zu niederschwelligen Erfolgserlebnissen auf ihrem Niveau ermöglicht werden, so dass sie für die persönliche Weiterentwicklung motiviert sind. Zudem sind der Erhalt und die Förderung einer breiten Umschulungs- und Weiterbildungslandschaft wesentlich.

Digitalisierung und besonderer Bildungsbedarf

Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen (Lernschwierigkeiten, Beeinträchtigungen etc.) brauchen gezielte Unterstützung und Förderung im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung. Ein zielgruppenspezifischer Ansatz und ein ressourcenorientiertes Vorgehen, wie es im sozial- und sonderpädagogischen Bereich angewandt wird, ist auch in Bezug auf die Digitalisierung zentral, damit Kinder und Jugendliche dort abgeholt werden können, wo sie Fähigkeiten und Interessen haben. Junge Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu befähigen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, heisst auch, sie zu befähigen, an der Digitalisierung teilzunehmen. Besondere Aufmerksamkeit ist der Entwicklung von Berufsperspektiven zu schenken.

These 4: Der bewusste Umgang mit Arbeits- und Freizeit ist wesentlich. Das Verwischen der Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit durch permanente digitale Erreichbarkeit bietet Chancen, birgt aber auch Risiken. Gesellschaft, Politik und Wirtschaft sind gefordert, kinder- und familienfreundliche Lösungen zu finden.

Die Digitalisierung lässt die Grenzen zwischen Arbeitszeit, Lernzeit und freier Zeit sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Eltern verschwimmen. Das hat viele Vorteile. Zum Beispiel haben wir die technischen Möglichkeiten gewonnen, die Arbeit flexibler zu gestalten und auch im homeoffice oder von unterwegs zu arbeiten. Gleichzeitig wird die Vereinbarkeit von Beruf und Familie dank der Digitalisierung in vielerlei Hinsicht vereinfacht. Eine klare Abgrenzung zwischen Arbeits- und Freizeit hingegen wird schwieriger. Das kann bei Kindern und Jugendlichen zu Stress führen und sich in gesundheitlichen Folgen niederschlagen. Auch bei Eltern kann die permanente (berufliche) Erreichbarkeit zu Stress und Überlastung führen. Ein bewusster Umgang mit der permanenten Erreichbarkeit («always on») und das Schaffen von medienfreien Zeiten und Räumen ist wichtig, weil dies Stress und Überlastung vorbeugen kann.

Bei Kindern und Jugendlichen sind klare Regeln und die Förderung der Medienkompetenzen zentrale Massnahmen (insbesondere innerhalb der Familie und im schulischen Kontext), um dem zeitlichen und sozialen Stress (z. B. Gruppendruck) zu begegnen. Hierfür wird auf das vielfältige Informationsangebot zur Medienkompetenzförderung der Nationalen Plattform Jugend und Medien des Bundesamtes für Sozialversicherungen verwiesen. Der bewusste Umgang mit Arbeits- und Freizeit ist wesentlich. Das Verwischen der Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit durch permanente digitale Erreichbarkeit bietet Chancen, birgt aber auch Risiken. Gesellschaft, Politik und Wirtschaft sind gefordert, kinder- und familienfreundliche Lösungen zu finden. Der Dialog zwischen Kind, Eltern und Schule (und ggf. Wohnheim) ist dabei wesentlich. Bewusste «offline»-Zeiten können helfen, die Qualität von freier Zeit wieder wahrzunehmen und im Alltag durch gemeinsame Aktivitäten oder Rituale bewusst zu verankern. Auch zwischen Unternehmen und Arbeitnehmenden braucht es klare Regeln. Eine Betrachtung der ganzen Situation ist dabei wesentlich (Kinder, Eltern, Schule, Arbeitgeber), und es braucht Flexibilität von allen Seiten. Dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein wesentliches Element der künftigen Gestaltung von Familien- und Arbeitsleben ist, hat auch die Meinungsumfrage der EKKJ bei 17-Jährigen (Ich und meine Schweiz 2015), gezeigt.

Auszug aus: Kinder und Jugendliche 4.0: Thesen der EKKJ zum Einfluss der Digitalisierung auf Kinder und Jugendliche
Die vier Thesen basieren auf Erkenntnissen des Co-Creation Day und einem von der EKKJ beauftragten Bericht von Dr. Sarah Genner «Digitale Transformation. Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche in der Schweiz – Ausbildung, Bildung, Arbeit, Freizeit (ZHAW, 2017)». Die EKKJ ist zurzeit an der Erarbeitung eines Fachberichtes.