Digitalisierung als Überlebensstrategie

Weltweit stehen zahllose indigene Sprachen vor dem Aussterben. Doch es gibt Hoffnung: Kreative Projekte aus Lateinamerika hauchen den alten Idiomen neues Leben ein.

Von Ulrike Prinz

Der Gruss «bi xi a'wo'tan?» in der Mayasprache Tzeltal bedeutet in etwa so viel wie «Guten Tag». Übersetzt man ihn jedoch wörtlich, heisst er: «Was sagt dein Herz?» Sich in anderen Sprachen zu bewegen, bedeutet nicht nur, andere Wörter zu verwenden, sondern vor allem, andere Konzepte zu erlernen. Bei den Maya, wie in vielen anderen Sprachen indigener Völker, fühlt und denkt das Herz.

Obgleich die indigenen Völker nur fünf Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, sprechen sie die meisten der 7000 heute noch lebenden Sprachen des Globus. Doch immer seltener werden die Gelegenheiten, in denen die alten Sprachen im Alltag genutzt werden und immer weniger Eltern bringen sie noch ihren Kindern bei. So setzt ein Teufelskreis ein, der dazu führt, dass inzwischen ein Drittel aller Sprachen vom Aussterben bedroht ist.

 

«Lasst uns Mixtekisch sprechen!»: Kurzes Video zur App, mit der man jene Variante des Mixtekischen lernen kann, die rund um die kleine Gemeinde Santa Inés de Zaragoza im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca gesprochen wird.

 

Das ist der Grund, warum die UNESCO 2019 zum Jahr der indigenen Sprachen erklärte. Die Organisation will damit auf den fortschreitenden Verlust dieser Sprachen aufmerksam machen, und sie will vor allem zeigen, wie wichtig deren Schutz und Wiederbelebung für eine nachhaltige Entwicklung ist. Denn mit der Sprache verschwinden auch einzigartige Denkweisen, Ausdrücke und ein unverwechselbarer Blick auf die Welt.

Lateinamerika ist eine der linguistisch vielfältigsten Regionen, und gleichzeitig ist es der Ort, wo diese Vielfalt am stärksten bedroht ist. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass die meisten indigenen Sprachen in wenigen Jahrzehnten ausgestorben sein werden.

Beschleunigter Sprachverlust

Der Sprachverlust «ist ein hochkomplexer Prozess, in den ganz unterschiedliche Faktoren hineinspielen», sagt die Bonner Ethnologin Catherine J. Letcher Lazo. «Einer der wichtigsten Gründe ist ökonomischer Art: Wenn man in einem Land nur dann Arbeit findet, wenn man die Mehrheitssprache spricht, dann zwingt das die Person, auch die dominante Sprache zu lernen und zu sprechen.» Ebenso lässt die zunehmende Abwanderung aus ländlichen Gebieten in urbane Räume indigene Sprachen verschwinden. In den letzten Jahrhunderten trug gerade die Assimilationspolitik der Nationalstaaten dazu bei, dass sich die dominanten Sprachen Spanisch und Portugiesisch immer mehr durchsetzten und die indigene Bevölkerung marginalisiert wurde.

«Aus linguistischer Sicht ist die Reduzierung der Sprachenvielfalt ein natürlicher Prozess», bemerkt Igor Vinogradov. «Eigentlich sprechen wir hier über den beschleunigten Prozess und die Vielzahl der Sprachen, die verloren gehen. In dieser Situation versucht die deskriptive Linguistik zumindest die Sprachstrukturen zu retten.» Das O'lelo Hawai'i, die Sprache der Ureinwohner Hawaiis, konnte beispielsweise wiederbelebt werden. Es galt bereits als ausgestorben, doch durch das Engagement der Hawaiianer und mit Hilfe linguistischer Aufzeichnungen wurde es gerettet.

In der derzeitigen Situation des beschleunigten Sprachverlustes wird es aber kaum mit dem Anlegen von wissenschaftlichen Dokumentationen getan sein. Die sind zwar wichtig, noch wichtiger sind jedoch die Kontexte, in denen eine Sprache verwendet wird. «Es gibt das Vorurteil, dass in diesen Sprachen nicht alles kommuniziert werden kann, dass sie ärmer sind als westliche Sprachen, weil man natürlich bestimmte Dinge in unserem Leben darin nicht so ausdrücken kann», fügt Letcher Lazo hinzu. Dafür hätten sie aber wiederum eigene Konzepte, die nicht ohne Weiteres auf andere Sprachen übertragbar seien. Siehe das Beispiel aus der Mayasprache Tzeltal.

Paradoxe Prozesse der Globalisierung

Oft wird der Prozess der Globalisierung für den Verlust der Vielfalt verantwortlich gemacht. Doch aus kultureller Perspektive handelt es sich um einen hochgradig dialektischen und paradoxen Prozess, in dem sich Homogenisierung und Ausdifferenzierung gegenseitig bedingen. Das eigentliche Problem liegt nach Llanes-Ortíz vielmehr in der Kolonisierung. Diese zeigt sich beispielsweise in der einseitigen Übertragung von dominanten, meist westlichen Konzepten auf die indigene Welt.

Globalisierung hingegen ist nichts per se Schlechtes für die bedrohten Sprachen. Zusammen mit der Digitalisierung kann sie sogar zu ihrer Rettung beitragen. «In den 1980er und 1990er Jahren wanderten viele Mitglieder indigener Völker aus Mexiko in die Vereinigten Staaten aus. Nach ihrer Ankunft in den USA stellten sie fest, dass dort ihre Muttersprache nicht diskriminiert wurde», berichtet Llanes-Ortíz. In San Francisco gibt es eine Gemeinschaft von etwa 14'000 Sprecherinnen und Sprechern des yukatekischen Maya, und viele von ihnen verbinden sich erneut mit diesem Teil ihres kulturellen Erbes. Es gibt auch ein paar junge professionelle Kommunikatoren, die wieder stolz auf ihre Sprache sind. Sie finden neue Wege des musikalischen Ausdrucks und verbreiten sie auf die effektivste Art, über das Internet.»

Digitaler Aktivismus

Der digitale sprachliche Aktivismus ist ein gutes Werkzeug, um die Diaspora der Sprecher von indigenen Sprachen zu überbrücken. Über soziale Medien wie Facebook, Twitter, Instagram oder auch auf Whatsapp können sich in alle Welt verstreute Sprecher kleiner Sprachen beispielsweise effizient vernetzen, wie Julia Montemayor von der Universität des Saarlands am Beispiel der yukatekischen Maya herausfand. Neben faszinierenden Möglichkeiten öffnen die neuen Medien aber auch die Pforte zu verdeckter Einflussnahme und Kolonisierung. So tauchen in den hippen Medien etwa Bibelübersetzungen in die indigenen Sprachen auf. Nachteil der Technologien: Wer hinter den «Influencern», den neuen Missionaren im digitalen Feld steht, sieht man nicht.

Tatsächlich hat sich in den letzten Jahren in ganz Lateinamerika eine aufstrebende indigene Bewegung formiert, die die digitalen Medien in ihrer eigenen Muttersprache auf kreative Weise nutzen. So stellte der Archäologe Omar Aguilar Sánchez auf der Bonner Konferenz eine Applikation vor, die es ermöglicht, in der Sprache Ñuu Savi die präkolumbischen Kodizes der Mixteken lesen zu lernen. Damit dient die Software der Revitalisierung der Sprache in den mixtekischen Gemeinden Mexikos und verbindet indigenes Wissen mit aktuellem Sprachgebrauch.

Auch die Entwickler des «Laboratorio de Ciudadanía Digital» waren überrascht über die grosse Nachfrage für die App «Vamos a Aprender Mixteco» zum Erlernen des Mixtekischen. Die Anwendung wurde im Juni 2015 gestartet und inzwischen mehr als 40 000-mal heruntergeladen – nicht nur in Mexiko, sondern auch in den USA, in China, Europa und Kanada.

Indigene Sprachen findet man inzwischen in allen Nischen und Erscheinungsformen der digitalen Welt: auf Twitter, in Form eigener Wikipedia-Versionen oder als kostenlose (Lern-)Software ebenso wie in Podcasts, digitalen Radiosendern, Konzerten oder in digitalisierten Büchern.

Im breiten Angebot der digitalen Möglichkeiten sind vor allem kommunale Radiosender erfolgreich, wie der unabhängige Sender Radio Yúuyum. «Hier kommen die Leute jeden Montag zusammen und machen mit geringem Aufwand Radioprogramme, unterhalten sich auf Maya, und man kann ihnen von überall auf der Welt folgen», sagt Llanes-Ortíz. Neben Musik und traditionellem Wissen transportieren diese kleinen Projekte eine alternative Weltsicht, die ausserhalb der grossen internationalen Kommunikationsindustrie Bestand hat und erreicht, dass Menschen wieder stolz auf die eigene Kultur und Sprache sind.

Strategien der Wiederbelebung

Besonders erfolgreich scheint der pädagogische Ansatz des chilenischen Mapuche-Projekts Kimeltuwe zu sein, das sich die Förderung der Sprache Mapudungun und der kulturellen Kommunikation auf seine Fahnen geschrieben hat. Es entstand aus der Zusammenarbeit zwischen einem Mapuche-Lehrer und einem chilenischen Künstler. Mit einem Team von Journalist*innen, Designer*innen, Künstler*innen und spezialisierten Programmier*innen bringen sie das Mapudungun nicht nur in die sozialen Netzwerke, sondern auch ins Radio und in akademische Publikationen.

 

Das Kimeltuwe-Projekt spricht auch die ganz Kleinen an.

 

Kimeltuwe legt grossen Wert auf die Vielfalt seiner Inhalte. Dabei sind weniger die Grammatikübungen beliebt, sondern mehr Inhalte, die sich auf Aspekte des täglichen Lebens beziehen. Auch kulturspezifische Wissensinhalte, wie Ernährung, Babynamen, Erziehungsmethoden, Möbel und Musikinstrumente erreichten eine hohe Popularität. Das Projekt zog auch viel Aufmerksamkeit auf sich, als es die beliebtesten Emoticons in den sozialen Netzwerken »mapuchisierte«, sie also ästhetisch und formal der Mapuche-Kultur anpasste.

In einer Studie über den digitalen Aktivismus am Beispiel von zwölf Sprachen kommt Genner Llanes-Ortíz zum Schluss, dass nicht jedes Digitalprojekt gleichermassen gut zur Wiederbelebung einer Sprache beiträgt.

Welche Strategien wirklich Erfolg haben, ist offen. Das Netzwerk digitaler Aktivismus indigener Sprachen «red activismo digital de lenguas indígenas» bietet Raum zum Erfahrungsaustausch und bringt dazu Aktivisten aus den verschiedensten Regionen Lateinamerikas zu Workshops zusammen.

Vom Digitalen zurück ins Analoge

Doch Digitalisierung kann in der derzeitigen Situation nicht die einzige Antwort auf den Sprachenverlust bleiben. Denn grundlegend für den Erfolg digitaler Strategien ist natürlich der Zugang zu den Medien. «In Lateinamerika gibt es aber weite Gegenden, wo die Leute nach wie vor keinen Zugang zum Internet haben», sagt Johannes Metzler von der DW Akademie der Deutschen Welle, «und da vertieft sich dann sehr schnell diese Kluft, die ohnehin schon da ist – zwischen denen, die teilnehmen, und denen, die ausgeschlossen sind.» Das ist der Fall im Norden Guatemalas an der Grenze zu Mexiko, einem rechtsfreien Raum, wo das organisierte Verbrechen regiert. Hier hat Metzler den Sender Radio Sayaxché aufgebaut. Dieser soll die Q'eqchi' sprechende Bevölkerung unterstützen und informieren.

Vielerorts ist man also weiterhin auf das gute alte Radio angewiesen. Und auch digitale Projekte wie Kimeltuwe wollen ihre Materialien ausserhalb der Netze zur Verfügung stellen. Um eine grössere Anzahl von Menschen zu erreichen, verteilen die Aktivisten Bücher, Poster und Blätter an den Schulen. Digital und analog werden in vielen Regionen Hand in Hand gehen müssen, wenn es gelingen soll, indigenen Sprachgebrauch wirksam zu fördern.

Ulrike Prinz

Dr. Ulrike Prinz ist Ethnologin und Journalistin. Sie lebt in München und Barcelona. Der Artikel «Bedrohte Sprachen: Digitalisierung als Überlebensstrategie?» ist erstmals in «Spektrum der Wissenschaft» erschienen. Zweitverwendung mit freundlicher Genehmigung der Autorin.