Digitalisierung an sich ist nicht nachhaltig

In seinem jüngsten Gutachten fordert der «Wissenschaftliche Beirat der deutschen Bundesregierung Globale Umweltveränderung» (WBGU), die Digitalisierung mit den Pariser Klimazielen in Einklang zu bringen und in den Dienst der Nachhaltigkeit zu stellen. Interview mit Marcel J. Dorsch, Mitautor des Berichtes.

asut: Digitalisierung ist keine unaufhaltsame Naturgewalt, deren Wucht sich niemand entgegenstellen kann, schreiben Sie in ihrem Bericht.

Nein, das ist sie nicht. Gewiss: Die Digitalisierung entwickelt eine grosse gesellschaftliche Brisanz, weil sie sich mit allen anderen Techniken verzahnt, in allen wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Systemen wirkt und diese radikal beeinflusst. Aber sie ist eine von Menschen vorangetriebene Entwicklung. Wir können und müssen deshalb auch gemeinsam darüber nachdenken, wie wir sie gestalten wollen. Wo wir Gefahren sehen und Grenzen setzen wollen. Und wo wir Gestaltung brauchen, um die Potenziale der digitalen Revolution zu verwirklichen und dafür zu sorgen, dass sie zum Hebel für die globale Transformation zur Nachhaltigkeit werden kann.

Revolution ist ein grosses Wort. Lässt sich die Digitalisierung mit anderen grossen zivilisatorischen Umbrüchen vergleichen?

Es hat in der Menschheitsgeschichte verschiedene fundamentale Entwicklungsschübe gegeben. Die neolithische Revolution mit dem Übergang zu Ackerbau und Viehzucht gehört dazu, genauso wie die industrielle Revolution, in der die manuellen Fähigkeiten des Menschen durch Mechanisierung und fossile Brennstoffe verhundertfacht wurden. In der sich jetzt vollziehenden digitalen Revolution, werden kognitive Fähigkeiten der Menschen potenziert. Begleitet wurden solche Umbrüche jeweils von extremen Wohlstandsgewinnen. Die industrielle Revolution war  aber auch mit massivem Ressourcenverbrauch verbunden und brachte enorme gesellschaftliche Spaltungen und die Verarmung gewisser Gesellschaftsschichten mit sich. Und weil die Dynamik der Veränderung nicht ohne weiteres absehbar ist – ausser für grosse Köpfe wie einen Karl Marx oder einen Adam Smith –, wird meist erst im Nachhinein das nötige Normengerüst geschaffen, um ihre Auswirkungen zu kanalisieren. Wir erheben nicht den Anspruch darauf, Marx 2.0 zu sein. Aber angesichts der drängenden globalen Umweltkrise ist es wichtig, hier ein bisschen vorauszudenken: Was steht mit der Digitalisierung an, was verändert sich, auf welchen gesellschaftlichen Boden fällt das? Und wie können wir die Entwicklung einhegen und in nachhaltige Bahnen lenken?

Kann die Digitalisierung den Schaden der vorangehenden Entwicklungsschübe wiedergutmachen?

Digitaler Wandel hat absolut faszinierende Potenziale. Werden die digitalen Mittel richtig eingesetzt, so können sie die Transformation zur Nachhaltigkeit beschleunigen. Digitalisierung kann aber auch zum Brandbeschleuniger von nicht-nachhaltigen Wachstumsmustern werden: Hyperkonsum, die Übernutzung natürlicher Ressourcen, Machtungleichgewichte, wachsende soziale Ungerechtigkeit in vielen Ländern. Digitaler Wandel an sich, das zeigt unsere Untersuchung ganz klar, ist nicht nachhaltig und kein automatischer Game-Changer. Ausschlaggebend bleiben die politischen Rahmenbedingungen und der Wille, sich etwa zu einer engagierten Klimapolitik zu bekennen und die entsprechenden Schritte zu unternehmen.

Wo sehen Sie Nachhaltigkeitspotenziale?

Überall dort wo es, wie in der Mobilität oder der Landwirtschaft, darum geht, pointierter mit knappen Ressourcen umzugehen. Wo die digitale Technologie nicht Selbstzweck ist, sondern in den Dienst der Nachhaltigkeit gestellt wird: zum Gelingen der Energiewende, zur Umsetzung der Kreislaufwirtschaft. Dort wo Digitalkompetenz mit Nachhaltigkeitskompetenz zusammengedacht und neue Ansätze des Wirtschaftens oder neue Geschäftsmodelle wie Plattformkooperativen verfolgt werden. Wo nachhaltiges Konsumverhalten gefördert, Transparenz in Produktionszyklen gebracht und das Potenzial der globalen Vernetzung dazu genutzt wird, Zugänge zu schaffen: zu Telemedizin, zu Bildung, zu dezentraler Energieversorgung, zu selbstbestimmten Tätigkeiten und zur wechselseitigen Erfahrbarkeit anderer Realitäten. Dort, wo digitale Technologien die Umsetzung von Biodiversitätszielen oder die Überwachung von Tierpopulationen ermöglichen und die Klimamodellierung vorantreiben. Und überall dort, wo Digitaltools es erlauben, Wissensschätze zu heben und auszuschöpfen.

Sind wir bereits auf dem richtigen Weg?

Nüchtern betrachtet muss festgestellt werden, dass die Digitalisierung von Wirtschaft und Alltag sich bislang nur marginal an Nachhaltigkeitsaspekten orientiert und eher nicht-nachhaltige Trends verstärkt. Digitale Technologien werden vorerst vor allem dafür eingesetzt, unsere Aufmerksamkeitsökonomie und unsere Konsummuster besser zu bedienen. Viele Anbieter behalten ihre Daten für sich, statt sie in einem gemeinwohlorientierten Sinn zur Verfügung zu stellen, etwa um neue Mobilitätsformen und bessere Verkehrsinfrastruktur zu fördern. An Stelle des erträumten freien, weltweiten Netzes, in dem alle Teilnehmenden gleichberechtigt sind, ist in der Realität eine von ökonomischen und geopolitischen Interessen getriebene Cybersphäre getreten.

Und doch ist heute viel von smarter und grüner ICT die Rede...

In vielen Bereichen entstehen unter den Labels «smart» und «green» kreative Räume, wo neue digitale Technologien für durchaus gute Zwecke erprobt und für eine breite Anwendung tüchtig gemacht werden. Die gleichen Begriffe generieren aber immer wieder auch fundamentale Spannungen. So etwa, wenn in Indien tolle Smart-City-Projekte entwickelt werden, aber einzig die obersten Gesellschaftsschichten davon profitieren. Oder wenn die Automatisierung es erlaubt, die Produktion in die Industrieländer des globalen Nordens zurückzuverlagern und der Süden seine Stellung als Werkbank der Welt einbüsst. Auch in der Landwirtschaft ist Vorsicht angebracht: eine Technologisierung, die nur wenige grosse Konzerne umsetzen und tragen können, schafft neue Abhängigkeiten und digitale Klüfte. Wir brauchen auch für diese Teile der Welt positive Zukünfte, die Möglichkeit zur Teilhabe und dazu, ihre lokale Eigenart und Kreativität einzubringen. Und damit meine ich eben gerade nicht Projekte, wie wenn Facebook das Internet in Afrikas entlegene Regionen bringt. Werden Basisinfrastrukturen von Grosskonzernen bereitgestellt, dann ist das kein Beitrag gegen den Digital Divide und keine inklusive Entwicklung, sondern ein kontraproduktives Unterfangen, das das Entstehen von lokalen Initiativen erstickt.

Das tönt nicht besonders zuversichtlich.

Ich bin durchaus optimistisch. Komplexe Transformationsprozesse brauchen ihre Zeit. Und in den letzten Jahren wurde bereits viel angestossen. Die For-Future-Bewegung hat die Debattenlandschaft grundlegend verändert. Als ich meine Dissertation geschrieben habe, war der europäische Emissionshandel ein Spezialistinnenthema. Heute können auch meine Eltern sachverständig darüber referieren und blutjunge Youtuberinnen erklären im Internet anschaulich, um was es geht. Die Erkenntnis, dass die Gesellschaft die Transformation zur Nachhaltigkeit aktiv begleiten will, ist in der Politik angekommen. Und im Digitalen sieht es ähnlich aus. Inzwischen setzen sich alle deutschen Ministerien mit der Digitalisierung auseinander, haben viele Forschungsinstitute im Nachhaltigkeitsbereich Digitalkompetenz nachgerüstet. Und die deutsche EU-Ratspräsidentschaft hat Digitalisierung und Nachhaltigkeit als ein Hauptthema gesetzt. Das ist als Hebel der Veränderung nicht zu unterschätzen.

Ihr Bericht zeigt mögliche «Schauplätze des digitalen Wandels» auf und gibt Handlungsempfehlungen. Welche davon sind zentral?

Wichtiges Ziel ist der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen. Eng damit verknüpft ist die Sicherstellung des Gemeinwohls. Wir empfehlen, dass gewisse Basisinfrastrukturen diskriminierungsfrei als öffentlich-rechtliche Gemeingüter bereitgestellt werden. Das würde die Teilhabe aller begünstigen und die Abhängigkeit von wenigen grossen Unternehmen verhindern, die sich keiner gesellschaftlichen Verantwortung stellen – was auch vielen KMU entgegenkäme. Zentral ist für uns zudem die Rolle, die Europa dabei spielen kann, den digitalen Wandel in den Dienst der Nachhaltigkeit zu stellen. Wir vertreten in Europa bewusst ein anderes Fortschrittsmodell als das Silicon Valley, wo Digitalisierung oft ohne Blick auf die Folgen als Disruption verstanden wird. Oder als China mit seinem digitalen Überwachungssystem. Nachhaltigkeit solltet bei uns als Innovationsqualität gelten. Die EU kann sich als Vorreiterin für eine digitalisierte Nachhaltigkeitsgesellschaft positionieren, die den digitalen Wandel mit der Verteidigung der Errungenschaften von Aufklärung und Humanismus vereinbaren will.

Wie kann die ICT-Branche zur Nachhaltigkeit beitragen?

Indem auch sie sich mit einem spezifischen Forschrittsmodell voran wagt und auf Nachhaltigkeit als Innovationsqualität setzt. Da auch in der Bügerinnenschaft das Bewusstsein für den Wert von Privatsphäre und Datenschutz immer stärker wird, kann es durchaus ein Wettbewerbsvorteil sein, Dienstleistungen nicht mehr automatisch gegen Preisgabe von Daten anzubieten, sondern alternative Geschäftsmodelle zu entwickeln. Das wird sich hoffentlich immer mehr durchsetzen. Ganz zentral ist auch, die Digitalisierung nicht nur in den Dienst der Nachhaltigkeit zu stellen, sondern innovative Lösungen zu entwickeln, um den ausufernden Energie- und Ressourcenverbrauch und die dadurch verursachten Umweltschäden des digitalen Wandels selbst in den Griff zu bekommen. Digitalisierung sollte selber nachhaltig und möglichst klima- und ressourcenneutral werden.

«Unsere gemeinsame digitale Zukunft», Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), 2019

 

Marcel J. Dorsch

Marcel J. Dorsch ist Wissenschaftlicher Referent «Politikwissenschaft und Global Governance» beim Wissenschaftlichen Beirat der deutschen Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU).