Der Kanton Waadt als Fusionskern der digitalen Innovation

Lausanne – unter Strom (Foto:Piqsels)

 

Von Camille Andres

Das berühmte «Health Valley» oder neuerdings auch das «Swiss Food & Nutrition Valley», in dem sich die Zukunft des Nahrungsmittel- und Ernährungssektors zusammenfindet, stehen beispielhaft für die Wirtschaftsdynamik des Kantons Waadt. Doch auch die Digitaltechnik ist Teil der anhaltenden Dynamik in der Region. Obwohl weniger bekannt, ist er ein echter Innovationstreiber. Erläuterungen.  

Als «Innovationshotspot» der Genferseeregion weist der Kanton Waadt laut einer Studie von «Vaud innove » derzeit die landesweit zweithöchste Konzentration von Neugründungen auf (ca. 400 Unternehmen). 25 wurden wurden mit dem «TOP 100 Swiss Startup Award» ausgezeichnet. Die Tendenz ist steigend, denn ausländische und Schweizer Investoren haben einen guten Riecher: Im Jahr 2019 haben sie 455,7 Millionen Franken investiert, das sind 70 % mehr als im Jahr 2018. Letzte Woche hat allein das im Bereich Halbleiter tätige waadtländer Start-up Kandou 92 Millionen Franken aufgebracht.

Doch von welcher Art der Innovation sprechen wir hier? Während Bio- und Foodtechs heute klar als Innovationstreiber identifiziert sind, erreicht nun auch ein anderer Sektor seine Reife:  die Digitaltechnik. Wir sprechen hier nicht über die Digitalisierung (die alle Unternehmen betrifft), sondern über Informations- und Kommunikationstechnologien und Cybersicherheit. Mit anderen Worten: Bereiche, in denen Unternehmen «in ihrem Geschäftsmodell einen innovativen Weg finden, um ein Problem zu lösen, das sie ohne diese Technologien nicht lösen könnten», erläutert Didier Schwarz, Direktor und Leiter des Bereichs Innovation bei der Stiftung für technologische Innovation (FIT).

Sechs der 25 waadtländischen Start-ups unter den TOP 100 sind im digitalen Bereich tätig, dem drittgrössten Investitionssektor für Waadtländer Start-ups. Es ist ein boomender Sektor, für den  spezifisches Venture Capital gerade  bereitgestellt wird. Kürzlich hat Wingman Ventures einen speziellen Fonds für die Digitale Wirtschaft aufgelegt — den europaweit grössten Fonds für Start-ups in der ersten Entwicklungsphase. Der Fonds hat in den letzten zwölf Monaten in 8 Schweizer Start-ups investiert, darunter zwei aus der Westschweiz (zwei weitere befinden sich in der Abschlussphase).

Ganz besonders boomt die Cybersicherheit, angetrieben von einer waadtländisch-genferischen Initiative mit internationaler Resonanz: das Trust Valley, ein Kompetenzzentrum für digitales Vertrauen und Cybersicherheit in der Genferseeregion, an dem 320 Unternehmen beteiligt sind. Diese beispiellose Struktur hat hochspezialisierte Bereiche geöffnet und zusammengebracht. «Im Rahmen unseres Tech4Trust-Programms  haben wir darauf geachtet, unterschiedliche Fachkenntnisse aufeinander abzustimmen, indem wir zum Beispiel die Geschäftsführer kleiner und mittlerer Unternehmen, die normalerweise nicht die Zeit haben, in Innovationsprogramme und junge Start-ups zu investieren, an einem Tisch zusammenbringen», erläutert Lennig Pedron, Direktorin des Trust Valley.

Strukturelle Faktoren – und darüberhinaus eine besondere Kultur

Die Hauptgründe für diese überbordende Innovation sind offensichtlich struktureller Natur. Als erstes ist sicher die «akademische Dichte der Universitäten und Hochschulen zu nennen — EPFL, HES, HEIG-Vd, UNIL — mit zahlreichen Laboratorien, die an Künstlicher Intelligenz und Cybersicherheit arbeiten», betont Patrick Barbey, Direktor von Innovaud, «dazu kommen in nächster Nähe das CERN in Genf, das Forschungsinstitut Idiap in Martigny sowie das Schweizerische Forschungszentrum für Elektronik und Mikrotechnik in Neuenburg». Dieses akademsiche Ökosystem ist insofern einzigartig, als dass es «auf angewandte Forschung, auf die Anmeldung von Patenten und auf die Verbindung zur Wirtschaft über aus der Forschung hervorgegangene Spin-offs oder KMU ausgerichtet ist». Die Genferseeregion wird somit mit einem Pool an Talenten versorgt, die weit über den Wirkungskreis der Hochschulen hinausdrängen. «Die in internationalen Konzernen beschäftigten Absolventen dieser Bildungsinstitutionen sind für den Aufbau einer Innovationsgesellschaft im digitalen Bereich unerlässlich», bekräftigt Patrick Barbey. Im Übrigen «existieren hier im Unterschied zu Zürich, wo viele junge Menschen zu Google gehen, im digitalen Bereich attraktive KMU-Strukturen», unterstreicht Lennig Pedron. So tragen beispielsweise NetGuardian, Sysmosoft oder ExoScale zu dieser lokalen Dynamik bei. Denn hier verbreitet sich Innovation aufgrund einer «echten, proaktiven und positiven Vernetzungskultur» äusserst schnell, wie verschiedene Gesprächspartner versichern. So Laurent Balmelli, Gründer von Stroncodes, das von Snapchat aufgekauft wurde. Er betont, wie sehr «allen Leuten hier daran gelegen ist, dass du erfolgreich bist». Diese Aussage widerlegt das Vorurteil, dass die Schweiz im Allgemeinen von Risikoaversion geprägt sei. Im Lauf der Jahre sind die Absolventinnen und Absolventen, die auf den Westschweizer Arbeitsmarkt kommen, immer besser für das Unternehmertum gerüstet und «die unternehmerische Kultur hat sich in der Region wirklich etabliert, sei es durch die Hochschulen (EHL, Unil) oder durch von diesen geförderten Projekten, wie beispielsweise der Innovation by Design Challenge der ECAL», sagt Didier Schwarz, Innovationsberater im Bereich Digitaltechnik bei Innovaud.

Angemessene Hilfe

Aktiv unterstützt wird diese Kultur durch ein gut strukturiertes Umfeld, das einen «tragfähigen Zusammenhalt» bietet, wie Didier Schwarz es definiert. Von der Bundeshilfe bis zu den Coaches Platinn, von der Stiftung für Technische Innovation bis zu Innovaud, wurde in der Waadt ein echtes Fördernetzwerk aufgebaut, das innovative Unternehmen in verschiedenen Entwicklungsstadien unterstützt, seien sie Start-ups oder aufstrebende Scaleups wie Monito, Neo, Alaya oder WeCheer. Das führt dazu, dass sich nicht alle  Unternehmen nur des starken Ökosystems wegen im Kanton ansiedeln (siehe Kasten EVRYTHNG), sondern dass sie manchmal auch «wegen dieser Unterstützung kommen», wie Didier Schwarz anmerkt. Eine Zeit lang war die Digitaltechnik das Stiefkind dieses Systems. Mit der Schaffung von spezifischen Unterstützungstolls für Start-ups im Digitalbereich, wie FIT Digital im Jahr 2018, hat sich das geändert «Die Innovation hat sich gewandelt, sie ist nicht mehr zwangsläufig an Patente oder Technologien gebunden. Unsere Förderkriterien wurden daher angepasst, um auch innovative Geschäftsmodelle zu berücksichtigen. Derzeit unterstützen wir 30 bis 35 Unternehmen mit diesem Programm», sagt Schwarz.

 Die Handlungsmöglichkeiten sind «noch unbegrenzt», schätzt Didier Schwarz, und für diese Technologien ist «das Ökosystem heutzutage ausgereift», analysiert Lennig Pedron, die die dringendste Herausforderung hervorhebt: «Die digitale Selbstbestimmung», d.h. die Möglichkeit einer Privatperson, eines Unternehmens oder eines Landes, sichere Datenräume zu schaffen. Und wenn glaubwürdige Alternativen zu den amerikanischen Internetgiganten GAFAM oder zu den chinesischen BATX bereits jetzt, in aller Stille, in einem Lausanner Open Space geschaffen würden?

Es ist schwierig, mit Sicherheit zu sagen, welche Form die digitale Innovation in der Genferseeregion annehmen wird, da sie von Natur aus nicht vorhersehbar ist. Tatsache bleibt, dass die Cybersicherheit oder Technologien wie die Blockchain derzeit einen Boom erleben. Didier Schwarz glaubt, dass das Handlungsfeld für diese Bereiche «noch unbegrenzt» ist, für Lenning Pedron ist das Ökosystem für diese Technologien inzwischen reif. Die dringendste Herausforderung ist für ihn nun die «digitale Selbstbestimmung», d.h. die Möglichkeit für ein Individuum, ein Unternehmen oder ein Land, sichere Datenräume zu schaffen. Wer weiss, vielleicht wird ja gerade in aller Stille in irgendeinem Open Space in Lausanne eine glaubwürdige Alternative zu den US-amerikanischen Internetgiganten GAFAM oder zu den chinesischen BATXs auf die Beine gestellt.

 

EVRYTHNG hat sich wegen seiner Konzentration an Talenten für den Kanton Waadt entschieden

Das zwischen London und Zürich geborene Unternehmen hat gerade ein Labor im Kanton Waadt eröffnet. Für den Kanton sprachen dessen Talentpool, die Qualität seiner Hochschulen — überd die EPFL hinaus —, sein solider Leistungsausweis im Bereich der digitalen Innovation sowie der Zugang zu den modernsten Technologien in Foschungslabors. Mit der Unterstützung von Innovaud, der Agentur für die Förderung von Innovation und Investitionen im Kanton Waadt (www.innovaud.ch), hat die EVRYTHNG-Gruppe deshalb ihr Team und ihr Labor in Lausanne angesiedelt. Das Unternehmen arbeitet an Spitzeninnovationen in den Bereichen Normen, Machine Learning und Blockchain. Es beschäftigt weltweit 70 Mitarbeitende. Gerade hat es 60 Millonen Franken eingeworben, um die Entwicklungen im Bereich der KI voranzutreiben. Sein Geschäftsmodell zielt darauf ab, die Rückverfolgbarkeit produzierter Waren zu ermöglichen, Fälschungen zu verhindern und es den Unternehmen zu ermöglichen, ihre Kundschaft besser zu kennen. Zu seinen Kunden zählen: Ralph Lauren, Coca Cola und Carrefour.

 

 

 

Camille Andres

Camille Andres ist eine freie Westschweizer Journalistin. Sie arbeitet unter anderem für «Bilan» und «heidi.news».