Von Susanne Halbekath, SBB
Sicherheit und Verfügbarkeit von Netz und Betrieb – um diesen gesetzlichen Kernauftrag zu erfüllen, kontrolliert die SBB Infrastruktur Risiken, die von den Netznutzern ausgehen. Ortsfest im Gleis verbaute Messanlagen, sogenannte Zugkontrolleinrichtungen (ZKE), sind in der Lage, eine Vielzahl sicherheitsrelevanter Zugseigenschaften bei Streckengeschwindigkeit aufzuzeichnen. Über 200 Anlagen messen heute an 100 Standorten beispielsweise Lichtraumprofilverletzungen, Beladungsverteilung, Heissläufer, Radunrundheiten oder ins Gleisbett hängende Teile. Eingesetzt werden vielfältige Technologien wie Infrarot, Kameras, Laser oder auch Gewichts- und Beschleunigungssensoren.
Betriebliche Störungen und sicherheitsrelevante Ereignisse wie Entgleisungen oder Brände konnten seit Einführung der ZKE deutlich verringert werden (ca. 30 Millionen CHF pro Jahr verhinderter Primärschaden, Reduktion von Verspätungsminuten um das 300-fache seit 2006).
Wayside Intelligence: Technologische Entwicklungen erweitern Spielfeld und Mitspieler
Während die ZKE-Daten ursprünglich vorrangig von SBB Infrastruktur zur Früherkennung unsicherer Fahrzeugzustände und für die rasche Intervention genutzt wurden, entstehen mit der technologischen Weiterentwicklung neue Anwendungsfälle für weitere Interessengruppen.
Die RFID-Kennzeichnung der Schienenfahrzeuge seit den späten 2000er-Jahren ermöglichte eine eindeutige Zuordnung von Messdaten zum betroffenen Fahrzeug. Dies bietet den Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) die Möglichkeit, gesetzlich verpflichtende aufwendige manuelle technische Zuguntersuchungen künftig zum Teil durch automatisierte ZKE-Messungen zu ersetzen. Insbesondere Daten zu Schäden oder Unrundheiten am Rad als Zeitreihenmessung erlauben es, lange vor kritischen Interventionsgrenzen im Betrieb Verschleiss- und Schadentwicklungen zu identifizieren – eine wertvolle Information für die präventive oder prädiktive Fahrzeuginstandhaltung.
Schon heute werden entsprechende Daten für Test- und Pilotanwendungen kostenfrei über ein WebGUI den EVU und Fahrzeughaltern (ECM) zur Verfügung gestellt. Und die nächste technologische Neuerung steht kurz bevor: Die SBB testet aktuell ein innovatives Kamerasystem, welches hochauflösende Rundum-Bilder der Fahrzeuge bei Streckengeschwindigkeit liefert. Die Bilddaten ermöglichen es, Machine-Learning-Algorithmen zu trainieren, um bauteilscharf Defekte und Normabweichungen am Zug zu erkennen.
Diese Entwicklung zur «Wayside Intelligence» bedeutet also eine wesentliche Erweiterung des Nutzungsspielfeldes der ZKE-Daten vom Ausgangspunkt Sicherheit und Verfügbarkeit des Netzes zur teilautomatisierten Zuguntersuchung und vorausschauenden Fahrzeuginstandhaltung.
Grosser Nutzen für alle Beteiligte – aber auch offene Fragen zu Regulation, Finanzierung und Verantwortlichkeiten
EVU, Halter und auch die Infrastrukturbetreiber selbst werden profitieren, da ein besserer Fahrzeugzustand natürlich auch die Sicherheit und Verfügbarkeit auf dem Netz erhöht.
Doch neben dem Gewinn an Effizienz, Fahrzeug- und Netzverfügbarkeit und den Vorteilen für den Fahrzeugunterhalt, entstehen zugleich Fragen zur Finanzierung, Regulation, Sicherheit und Verantwortung. Die eng miteinander vernetzten Positiveffekte der Datennutzung erschweren es, den entstehenden Nutzen und somit auch die Kosten den Beteiligten angemessen zuzuordnen. Bisher werden die ZKE gemäss behördlichem Auftrag über öffentliche Mittel finanziert – soll dieser Auftrag erweitert werden, da das System Bahn insgesamt profitiert? Wie ist der Benefit der EVU und ECM monetarisierbar? Ist der Infrastrukturbetreiber umgekehrt berechtigt, nunmehr fahrzeugscharf zuordenbare Schäden an der Infrastruktur verursachergerecht zu verrechnen?
Eine grosse Herausforderung bedeuten auch die unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten von Technologie auf der einen, Standardisierung und Regulation auf der anderen Seite. Insbesondere die Anforderungen an Nachvollziehbarkeit und Dokumentation bei der Entwicklung sicherheitsrelevanter Software im Eisenbahnbereich sind heute nicht auf den Einsatz von Technologien wie KI ausgerichtet. Wollen die Fahrzeughalter KI-generierte Erkenntnisse zur Anpassung des Instandhaltungsregimes nutzen, müssen sie einen Nachweis gleicher Sicherheit erbringen (d.h. es darf keine Verschlechterung des Sicherheitsniveaus geben) – es ist kein triviales Unterfangen, Entscheidungsprozesse der KI dafür entsprechend transparent und nachvollziehbar zu gestalten. Zudem erhöhen sich, wie generell bei Digitalisierungsvorhaben, auch hier künftig die Anforderungen an Sicherheit, Redundanz bei Ausfall, Schutz vor Manipulation und Cybergefahren.
Durch neue Aufgaben und Anwendungsfälle entstehen zudem rechtliche Fragen zu Pflichten, Dateneigentümerschaft, Risiken und Haftung beispielsweise für fehlerhafte Daten oder Systemausfälle.
Wie wir sehen, stellen sich vielfältige für technologische Innovationen im Eisenbahnbereich typische Herausforderungen. Um nicht an Geschwindigkeit zu verlieren und den Nutzen für das Gesamtsystem Eisenbahn optimal realisieren zu können, braucht es eine enge Zusammenarbeit zwischen Regulierungsbehörden, Eisenbahnbetreibern/-haltern und Technologieanbietern – aber auch eine «Philosophie der kleinen Schritte», um Praxiserfahrung mit Pilotanwendungen zu sammeln.