Es findet ein Gesinnungswandel statt

Schönschreiben und Auswendiglernen war gestern. Wer heute aus der Schule kommt, muss sich in der digitalen Welt zurechtfinden, sagt Beat W. Zemp, der «Oberlehrer der Nation».

asut: Ist Internet einfach ein Lehrmittel mehr, so wie früher das Sprachlabor, oder haben wir es hier mit einer Veränderung zu tun, die tiefer greift?

Beat W. Zemp: Sie greift ganz klar tiefer. Das Sprachlabor, das ich selber als Schüler noch erlebt und auch ganz lustig gefunden habe, blieb am Ende eine relativ passive Angelegenheit: Viel mehr, als eine Lektion nach der andern abzurufen und den Anweisungen zu folgen, konnte man da ja nicht tun. Mit der ICT haben wir in der Schule eine ganz neue Situation.

Inwiefern?

Sicher ist Internet erst einmal einfach ein neues Medium wie Film und Video vor ein paar Jahrzehnten oder Wandtafel und Schulbuch, wenn man noch weiter zurückgeht. Aber es ist ein Medium, das sich durch die Möglichkeit, alle Schülerinnen und Schüler zu vernetzen, oder dadurch, dass es mobil und zeitlich unabhängig benutzt werden kann, im Unterricht ungemein vielfältig einsetzen lässt. Voraussetzung dafür sind allerdings gewisse digitale Kompetenzen (siehe Kasten).

Gilt der gute alte Spruch, dass wir nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen, auch im Zeitalter der Digitalisierung?

Er gilt heute erst recht. Die Schule muss sich der Herausforderung stellen, ihre Schülerinnen und Schüler auf Berufe vorzubereiten, die es noch gar nicht gibt. Sie hingegen für eine Welt auszubilden, wie wir sie vor fünfzig Jahren gehabt haben, ist völlig falsch. So kommen beispielsweise im Lehrplanentwurf der SVP-Bildungskommission digitale Kompetenzen gar nicht vor. Natürlich sind Lesen, Schreiben, Rechnen und Werken weiterhin wichtig, aber heute sind Digital Skills auch in handwerklichen Berufen gefragt. Darum gehören sie bereits in die Volksschule und werden künftig noch mehr Gewicht erhalten, als es der Lehrplan 21 vorsieht.

Digitale Kompetenzen ist ein schwammiger Begriff. Für die einen bedeutet es, Jugendliche dafür zu sensibilisieren, auf Facebook nicht zu viel von sich preiszugeben. Für andere heisst es, dass alle Schüler programmieren lernen. Was verstehen Sie darunter?

Die Informations- und Kommunikationstechnologien haben sich in den letzten Jahrzehnten rasant entwickelt. Ich kann mich noch gut an unsere kontroversen Diskussionen in  der Geschäftsleitung erinnern, als der LCH Anfang der 90er-Jahre als einer der ersten Verbände eine eigene Webseite aufschalten wollte. Vielen erschien das damals einfach ein Modetrend zu sein. Inzwischen ist klar, dass der Umgang mit ICT und Internet ins Zentrum des Unterrichts gehört, zusammen mit den übrigen Kernkompetenzen, also lesen, rechnen und schreiben. Wobei auch schreiben heute einen neuen Stellenwert erhält: Schönschreiben mit der Schnürlischrift ist definitiv out.

Wie steht es mit dem Wissen im Kopf, dem Auswendig-Lernen?

Das ist ein heiss diskutiertes Thema: Die Gegner des Lehrplans 21 behaupten, dass mit der Kompetenzorientierung das Grundwissen verloren gehe. Das ist Unsinn: Kompetenzen ohne Wissen gibt es nicht. Die Frage ist aber, ob Wissen im Lehrplan jederzeit abrufbar sein muss. Das gilt heute sicher nur noch für einen Teil des Grundwissens. Alle Passübergänge von A nach B aufschreiben zu können, hat heute ganz bestimmt keinen Bildungswert mehr, über eine «mental map» der Schweiz, ihre geografische Struktur und die Lage auf der Erdkugel zu verfügen hingegen schon. Da findet ein Gesinnungswandel statt, der einigen noch widerstrebt. Doch dass beispielsweise Ende November in Schaffhausen und im Thurgau die Initiativen der Lehrplan-21-Gegner derart abgeschmettert wurden, zeigt, dass ein kompetenzorientierter Lehrplan heute von einer grossen Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert wird.

Kommen wir zurück zu einem vieldebattierten Punkt: Programmieren in der Schule ja oder nein?

Für mich ist klar, dass nur kompetent mit den digitalen Werkzeugen umgehen kann, wer nicht nur Anwenderkenntnisse hat sondern auch gewisse Grundprinzipien des Programmierens und der Funktion von Algorithmen versteht. Das muss genauso zur Grundbildung jeder Schülerin und jedes Schülers gehören wie ein Grundwissen über Wirtschaft, Finanzen und Recht. Nur so können sie ihren Platz in der Gesellschaft und im Berufsleben finden. Wichtig ist mir aber, und dafür werde ich mich wehren, dass der Programmierunterricht auf der richtigen Stufe stattfindet. Ein Erstklässler ist entwicklungspsychologisch nun einmal einfach noch nicht fähig, abstrakte Datenstrukturen zu erfassen.

Und wie steht es mit dem Lehrpersonal? Sind da die nötigen Digital Skills überhaupt vorhanden, um sie weitervermitteln zu können?

Ich war fünf Jahre Präsident der Bundesexpertengruppe «Schulen ans Netz», dem bisher grössten Public Private Partnership in der Schweiz, bei dem zwischen 2002 und 2007 über eine Milliarde investiert wurde, um die Primar-, Sekundar-, Mittel- und Berufsschulen ans Netz anzuschliessen, nicht zuletzt dank dem nachhaltigen Engagement der ICT-Branche. Swisscom hat damals rund 5000 Schulen mit der erforderlichen Technik ausgerüstet. Teil dieser Initiative war auch die Weiterbildung der Lehrpersonen, dafür waren rund 100 Millionen Franken vom Bund vorgesehen – am Ende blieben davon nach verschiedenen Kürzungen noch etwa 40 Millionen übrig. Damit konnten wir viele ausbilden, aber der Nachholbedarf bleibt bestehen, sowohl in der Lehrerausbildung als auch bei den bereits amtierenden Lehrpersonen. Dass die ICT-Branche sich dieser Problematik bewusst ist und die asut-Fachkommission konkrete Unterstützungshilfe für die Schulen leisten will, begrüsse ich sehr.

Digital Literacy: Die sechs Kompetenzbereiche

  1. Suchen und verarbeiten: Eine Internetrecherche durchführen, Informationen holen, speichern, auswerten, bewerten können.
     
  2. Kommunizieren und kooperieren: Interagieren, Informationen und Dateien mit anderen teilen, digitale Werkzeuge benutzen und für die Zusammenarbeit mit anderen einsetzen können und die «Netiquette», die Regeln des korrekten Umgangs im Internet, kennen. Unter diesen Punkt fällt auch die gesellschaftliche Teilnahme, z. B. an politischen Debatten.
     
  3. Produzieren: Schülerinnen und Schüler werden mithilfe des Internets selber Produzenten von Information und digitalen Produkten (Filme, Videoclips, Musik etc.) Sie wissen über Urheberrecht, Persönlichkeitsrechte und Copyright im Internet Bescheid.
     
  4. Schützen: z. B. digitale Umgebungen und die eigenen Daten mit Passwörtern, die Privatsphäre (wie viel und was soll man auf Internet von sich selber preisgeben), die Gesundheit (Suchtpotenziale erkennen) und die Umwelt (Problematik der Verbrauchsmaterialien und ihrer Entsorgung kennen).
     
  5. Digital Skills zur Lösung technischer Probleme einsetzen. Dazu gehören Grundprinzipien des Programmierens und das Verständnis der Funktionsweise und der Grundstrukturen von Algorithmen.
     
  6. Analysieren und reflektieren: Medienanalyse, die Bubble-Problematik kennen, d.h. wissen, dass die Suchresultate oft nur das (persönliche, politische, ideologische usw.) Umfeld wiederspiegeln, in dem der jeweilige Internetnutzer sich bewegt.

 

Beat W. Zemp

Beat W. Zemp ist seit 1990 Präsident des Dachverbandes Schweizer Lehrerinnen und Lehrer LCH, der über 50 000 Mitglieder umfasst. Seit 1998 ist er hauptamtlich für den LCH tätig und vertritt die Anliegen der Schweizer Lehrpersonen in verschiedenen Gremien der Schweizer Erziehungsdirektorenkonferenz und des Bundes. Zemp hat Mathematik, Geografie und Pädagogik studiert.