Informatikerin oder Pflegefachmann? Geschlechtersegregation in Ausbildungs- und Berufsverläufen in der Schweiz

Im europäischen Vergleich verlaufen Ausbildungs- und Berufsbiografien in der Schweiz noch immer besonders ausgeprägt in geschlechtstypischen Bahnen. Auch heute noch werden Frauen hierzulande selten Informatikerinnen und nur wenige Männer lassen sich zu Pflegefachmännern ausbilden. Eine siebenköpfige Forschungsgruppe am Zentrum Gender Studies und dem Seminar für Soziologie der Universität Basel unterzog diese fortbestehenden Geschlechterungleichheiten in Ausbildungs- und Berufsverläufen im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 60 «Gleichstellung der Geschlechter» einer detaillierten Analyse. Dabei wurden eine Reihe von Mechanismen entdeckt, die für die fortbestehende horizontale Geschlechtersegregation in der Berufswelt verantwortlich sind.

Worin liegt die ausgeprägte Geschlechtersegregation im Schweizerischen Ausbildungs- und Berufssystem begründet? Und warum erweist sie sich als so ausgesprochen persistent? Um Aufschluss über diese Fragen zu erhalten, untersuchte die Forschungsgruppe gegenwärtige geschlechtsspezifische Ausbildungs- und Berufsverläufe junger Frauen und Männer in der Schweiz. Dazu kombinierte das Basler Forschungsteam quantitative und qualitative Forschungsmethoden: Für die quantitativen Analysen wurde der Datensatz der TREE-Studie (Transition von  der  Erstausbildung ins Erwerbsleben) verwendet.  Die TREE-Studie (www.tree-ch.ch) ist die erste repräsentative nationale Längsschnittuntersuchung zum Übergang Jugendlicher von der Schule ins Erwerbsleben in der Schweiz.  Die Stichprobe umfasst rund 6000 Jugendliche, die im Jahr 2000 an der PISA-Studie teilnahmen und im selben Jahr als rund 16-­Jährige die obligatorische Schulpflicht beendeten. Die Jugendlichen wurden seither in ungefähr jährlichen Abständen zu ihrem weiteren beruflichen Werdegang befragt. Zusätzlich führte die Forschungsgruppe mit 33 ausgewählten Personen aus der TREE-Stichprobe rund 10 Jahre nach Schulabschluss rückblickende biografische Interviews zu ihren Ausbildungs- und Berufsverläufen.

Den Forschungsergebnissen zufolge ist der Handlungsbedarf seitens der Politik und Berufsbildung im Bereich der horizontalen beruflichen Geschlechtersegregation noch dringlicher als ohnehin schon bekannt. Es zeigte sich nämlich, dass die Segregation auch in der Generation der heute Mitte-Zwanzigjährigen nicht im Schwinden begriffen ist. Vielmehr kann eine ganze Reihe von Mechanismen identifiziert werden, die zu ihrer Aufrechterhaltung beitragen. Sie zu überwinden, stellt eine beträchtliche gesellschaftliche Herausforderung dar.

Geschlechtsuntypische Ausbildungs- und Berufsverläufe sind nach wie vor selten

Wie die Projektergebnisse sichtbar machen, unterscheiden sich die Ausbildungswege von Frauen und Männern noch immer deutlich. In den schulischen Ausbildungen überwiegen die Frauen, in der betrieblichen Berufsbildung die Männer. Auch in der Kohorte der heute Mitte-Zwanzigjährigen sind geschlechtsuntypische Ausbildungsverläufe selten: Lediglich 3 Prozent der jungen Frauen und Männer möchten als 16-Jährige einen Beruf ergreifen, in dem ihr Geschlecht weniger als 30 Prozent der Beschäftigten ausmacht, und sind sieben Jahre später auch in einem solchen geschlechtsuntypischen Berufsfeld tätig. 

Frauen streben häufiger geschlechtsuntypische Ausbildungswege an als Männer. Es gelingt ihnen jedoch seltener, sich in diesen Berufsfeldern auch tatsächlich zu etablieren. In diesem Ergebnis wird die Hierarchisierung der Berufswelt nach Geschlecht deutlich. Da männertypische Berufe tendenziell einen höheren Status haben, sind sie attraktiver und werden entsprechend häufiger angestrebt. Gleichzeitig sind sie schwieriger zu erreichen als die tendenziell statustieferen frauentypischen Berufsfelder.

Zusätzliche Segregation innerhalb der Berufe

Die qualitativen Interviews lieferten darüber hinaus Hinweise, dass das effektive Ausmass der Geschlechtersegregation in der Berufswelt noch stärker ausfällt als statistisch nachweisbar. Bei einigen geschlechtsuntypisch kodierten Fällen wurde deutlich, dass sich Männer in frauentypischen Berufen oft in «Männernischen» wiederfinden und Frauen in den männertypischen Berufen in «Frauennischen». So enthält das qualitative Sample beispielsweise eine Frau, die als Montagearbeiterin der Metallverarbeitungsbranche zugeordnet ist, in der entsprechenden Firma jedoch hauptsächlich Sekretariatsarbeiten erledigt. Eine Konstrukteurin betreut in ihrer Firma die Messestände und gleich mehrere interviewte Pflegefachmänner arbeiten nicht in der Pflege am Krankenbett, sondern als Berufsbildner oder Anästhesieassistenten. Diese geschlechtstypischen Nischen erwiesen sich als so häufig, dass es trotz des grossen quantitativen Ausgangssamples schwierig war, überhaupt genügend untypische Fälle für die qualitativen Interviews zu finden.

Frühe Selektion und starke Pfadabhängigkeit des Schweizer Ausbildungssystems

Welche Mechanismen tragen zu dieser ausgeprägten Segregation bei? Ein erstes Ursachenbündel lokalisiert die Forschungsgruppe im Ausbildungssystem selbst: Erstens findet die zentrale berufsbiographische Weichenstellung im Schweizer Ausbildungssystem im internationalen Vergleich zu einem sehr frühen Zeitpunkt statt. Beim Übergang von der obligatorischen Schule in die berufsbildenden oder allgemeinbildenden Ausbildungsgänge der Sekundarstufe 2 sind die Jugendlichen erst 15 bis16 Jahre alt. In dieser Lebensphase orientieren sich die meisten Jugendlichen stark an Geschlechterstereotypen und wagen es nur selten, Geschlechtergrenzen zu überschreiten. Zweitens belegen die Analysen der Ausbildungsverläufe, dass die Ausbildungsberufe in der Schweiz eng an die späteren Erwerbsberufe gekoppelt sind. Diese starke Pfadabhängigkeit macht es schwierig, von einmal eingeschlagenen Ausbildungswegen später noch abzuweichen. Diese beiden Charakteristiken des dualen Ausbildungssystems der Schweiz identifizieren die Forschenden als erste Schlüsselmechanismen, die zu einer ausgeprägten beruflichen Geschlechtersegregation beitragen.

Untypische Berufe kommen nicht ins Blickfeld – auch nicht in der Berufsberatung

In den Interviews wurde zudem deutlich, dass die befragten Frauen und Männer in ihrer bisherigen Bildungsbiografie kaum je mit der Möglichkeit, einen geschlechtsuntypischen Beruf zu ergreifen, in Kontakt kommen. Wie die Befragten erzählen, nannten sie bereits als Kinder geschlechtsadäquate Wunschberufe. Auch während der Schulzeit und in Schnupperpraktika hätten sie geschlechtsuntypischen Berufsfeldern für sich selbst gar nie in Erwägung gezogen. Zum Zeitpunkt, in dem die Jugendlichen beginnen, sich konkret mit möglichen Berufsfeldern auseinanderzusetzen, ist ihr Blick in vielen Fällen bereits ausschliesslich auf geschlechtstypische Berufsfelder eingeengt und blendet andere Interessen und Talente systematisch aus. Auch der Berufsberatung kommt in diesem Prozess eine geringe Bedeutung zu; die Befragten betrachten sie rückblickend als bedeutungslos für ihre eigene Berufsfindung. Die Beratungssituationen werden lediglich als punktuelle, einmalige Ereignisse erinnert, die keine nachhaltige Wirkung entfaltet haben und auch keine Erweiterung der bis dahin vorhandenen Berufsorientierung bewirkten.

Junge Erwachsene in untypischen Berufen haben überdurchschnittliche Ressourcen

Welche Jugendlichen finden trotz dieser Ausgangslage den Weg in geschlechtsuntypische Berufe? Wie die Forschenden feststellen, weisen diejenigen Männer und Frauen, die als 16-Jährige einen geschlechtsuntypischen Beruf antizipiert haben und sich sieben Jahre danach in einem solchen Beruf wiederfinden, eine höhere Ressourcenausstattung auf als ihre Alterskolleginnen und -kollegen in geschlechtstypischen oder neutralen Berufen. Überdies weisen sie eine leicht geschlechtsuntypische Ressourcenkombination auf, indem Männer in geschlechtsuntypischen Berufen im PISA-Test etwas höhere Lesekompetenzen und Frauen im männerdominierten Beruf etwas bessere Mathematikleistungen aufweisen als ihre gleichaltrigen Kolleginnen und -kollegen in geschlechtstypische Ausbildungen. Darüber hinaus zeichnen sie sich durch eine überdurchschnittliche Selbstwirksamkeit aus und ihre Eltern besitzen einen höheren Sozialstatus und mehr kulturelle Güter, wie Bücher und Kunstgegenstände. Es sind folglich nicht die schwachen Schülerinnen und Schüler, die in untypische Berufe abgedrängt werden, weil sie anderenorts den Einstieg nicht schaffen. In den Interviews berichten die jungen Erwachsenen mit untypischen Verläufen zudem von einem hohen Mass an Unterstützung und Bestätigung aus ihrem Umfeld. Positive Rückmeldungen von Eltern, Geschwistern und anderen nahestehenden Personen sowie von Lehrpersonen, Ausbildnerinnen und Ausbildnern sind zentral, damit ein geschlechtsuntypischer Weg nicht nur begonnen wird, sondern auch gelingt.

Untypische Berufsverläufe «lohnen» sich nicht für alle gleichermassen

Weiter zeigt die Studie, dass es sich für Männer und Frauen nicht gleichermassen lohnt, einen geschlechtsuntypischen Beruf zu ergreifen. Wie der Vergleich des antizipierten mit dem sieben Jahre später tatsächlich erreichten Berufsstatus sichtbar macht, hat ein Wechsel in einen frauentypischen Beruf den grössten Statusverlust, jener in einen männertypischen Beruf als einziger einen Aufstieg zur Folge. Höhere Statuswerte erreichen in erster Linie junge Frauen, die sich in neutralen oder männertypischen Berufsfeldern etablieren können. Eine Abweichung von geschlechtstypischen Ausbildungswegen ist für Frauen folglich lohnenswert. Für Männer mit konstant untypischen Verläufen hingegen ist die Bilanz negativ. Sie weisen sieben Jahre nach Schulabschluss trotz ihrer überdurchschnittlichen Ressourcenausstattung von allen Verlaufsgruppen den tiefsten Berufsstatus auf. Besonders frappierend sind die Analyseresultate jedoch generell bei den jungen Frauen und Männern, die frauentypische Berufe antizipieren und realisieren. Bei ihnen fällt nicht nur ihr tiefer erreichter Berufsstatus auf, sondern auch der geringe antizipierte Status, der mit frauentypischen Berufen verbunden ist. Einen frauentypischen Beruf zu ergreifen, zahlt sich folglich weder für Frauen noch für Männer aus. Dieser Mechanismus hält insbesondere junge Männer von vornherein davon ab, frauentypische Berufsfelder in Betracht zu ziehen.

Inkompatibilität von Familie und Beruf

Ein weiterer Segregationsmechanismus zeigt sich bei den jungen Erwachsenen mit geschlechtsuntypischen Berufen im Zusammenhang mit einer späteren Familiengründung. Männer wie Frauen fragen sich, wie sie ihren geschlechtsuntypischen Beruf mit ihren Familienplänen in Einklang bringen sollen. Mehrere Männer in frauentypischen Berufen thematisieren die Schwierigkeit, in ihrem Beruf genügend zu verdienen um später eine Familie ernähren zu können. Frauen in männertypischen Berufen erwähnen demgegenüber in erster Linie das Problem, zukünftige Familienarbeit mit einer Berufstätigkeit zu vereinbaren, in welcher Vollzeitarbeit gefordert ist. Sie befürchten, dass sie nach einer Familiengründung ihre heutige Arbeit aufgeben und auf weniger herausfordernde Tätigkeiten ausweichen müssen.

Die erwartete Unvereinbarkeit von Beruf und Familie kommt nicht erst dann zum Tragen, wenn ein Kinderwunsch tatsächlich realisiert wird. Sie kann Jugendliche mit geschlechtsuntypischen beruflichen Interessen und Fähigkeiten von vornherein davon abhalten, diese weiter zu verfolgen. Wie die quantitativen Analysen belegen, wünschen sich Frauen, die eigenen Kindern bereits als 16-Jährige eine hohe Bedeutung zuweisen, häufiger frauentypische Berufe und sind sieben Jahre später auch häufiger in frauentypischen Berufen tätig.

Wie Geschlechterungleichheiten in Ausbildungs- und Berufsverläufen vermindern?

Die Ursachen für die Reproduktion der Geschlechtersegregation sind komplex und vielschichtig. Die Berufsfindung ist nicht als punktueller Entscheidungsmoment zu verstehen sondern als langfristiger biografischer Prozess, der in frühster Kindheit beginnt und sich im Sinne einer durchgängigen geschlechtsspezifischen Sozialisation durch das gesamte Jugendalter weiter fortsetzt. Lediglich punktuell ansetzende Sensibilisierungsmassnahmen greifen deshalb zu kurz.

Die Studie identifiziert insbesondere drei konkrete Handlungsfelder:

  • Es bedarf einer wirksamen geschlechtersensiblen Begleitung junger Erwachsener in ihrem Berufsorientierungsprozess. Eine solche beinhaltet, die Perspektive der jungen Erwachsenen auf geschlechtsuntypische Berufsfelder zu erweitern. Dabei gilt es, stets auch ihre antizipierten Familienrollen in die Diskussion einzubeziehen und Alternativen zu einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung auszuloten. Dies erfordert, sämtliche Schlüsselpersonen (Lehrpersonen, Berufsberaterinnen, Erzieher, Jugendarbeiterinnen, Lehrmeister, Berufsbildnerinnen etc.) für ihre wichtige Rolle als Gatekeeper und Mentorinnen zu sensibilisieren.
     
  • Ausbildungswege zu frauen- und männertypischen Berufen müssen äquivalent ausgestaltet werden. Berufe für beide Geschlechter attraktiv zu machen, beinhaltet unter anderem, die Trennung in männertypische berufsbildende und frauentypische allgemeinbildende Ausbildungsgänge aufzulösen. Darüber hinaus ist die horizontale Durchlässigkeit zwischen verschiedenen Berufsfeldern zu verbessern, damit Berufswechsel auch zu späteren Zeitpunkten in Ausbildungsverläufen leichter gelingen.
     
  • In Bezug auf den Arbeitsmarkt besteht die sehr grundlegende Herausforderung darin, Berufe von ihrer Entlohnung und ihrer Arbeitsorganisation her so auszugestalten,dass sie nicht einen bestimmten vergeschlechtlichten Lebensentwurf aufzwingen. Dies bedarf einer Anpassung der Entlohnung in vielen frauentypischen Berufen und die Ermöglichung von flexiblen Arbeitszeiten, variablen Arbeitspensen und Erwerbsunterbrüchen in männertypischen Berufen, so dass eine Vielfalt an Lebensverläufen ermöglicht wird – für Frauen und für Männer.

 

 

Und: tut sich etwas?

Drei Fragen an Karin Schwiter, Forschungsgruppenleiterin und Lehrbeauftragte in Wirtschaftsgeografie an der Universität Zürich

asut: Seit Abschluss der NFP-Studie sind 6 Jahre vergangen. Werden stereotype Berufsbilder und Familienrollen heute stärker hinterfragt?

Karin Schwiter: Es ist noch zu früh, um das mit wissenschaftlichen Daten belegen zu können. Das Forschungsprojekt TREE begleitet zurzeit eine neue Kohorte von jungen Frauen und Männern, die die Schule rund 10 Jahre später abgeschlossen haben. Es wird interessant sein, die Resultate zu vergleichen.

Was ist Ihr persönlicher Eindruck?

Sicher lässt sich sagen, dass noch keine Revolution losgegangen ist. Aber es gibt inzwischen eine ganze Reihe von Projekten, wie etwa den Nationalen Zukunftstag, um Kindern die Berufswelt ihrer Eltern ohne genderspezifische Vorurteile näherzubringen. Auch bei der Berufsberatung wird das Thema stärker aufgenommen. Interessant ist zudem, was wir in einem Nachfolgeprojekt beobachten: Mehr und mehr wünschen sich junge Männer, einen Tag pro Woche mit ihren Kindern verbringen zu können. Die Idealvorstellungen von Familie und Vaterrolle sind im Fluss.

Fragt sich, ob die Arbeitsgeber mitmachen?

Gerade in Branchen mit Fachkräftemangel wie in den IT-Berufen sind die jungen Leute in keiner schlechten Verhandlungsposition. Das dürfte zum Wandel beitragen.

 

Andrea Maihofer

Prof. Dr. Andrea Maihofer ist Professorin im Bereich Gender Studies an der Universität Basel. Sie leitete die Projektgruppe, welche im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms NFP 60 (Gleichstellung der Geschlechter) die Studie «Geschlechterungleichheiten in Ausbildungs- und Berufsverläufen» erarbeitete.