Kühlen wird wichtiger als heizen

Die brasilianische Künstlerin Nele Azevedo macht mit Eisskulpturen auf die Folgen des Klimawandels aufmerksam (Foto: Xtinac75, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)

 

Nahezu jedes Schweizer Wohngebäude verfügt heute über eine Heizung, nur wenige über ein Kühlsystem. Dieser Standard in der Gebäudetechnik wird durch den erwarteten Temperaturanstieg im Zuge des Klimawandels in Frage gestellt. Die Kühlung von Wohnbauten dürfte in Zukunft stark an Bedeutung gewinnen und massgeblich zum Energiebedarf von Gebäuden beitragen. Stehen wir vor einem Paradigmenwechsel in der Gebäudeplanung?

Von Gianrico Settembrini

Es ist zu erwarten, dass das Klima der Schweiz im Laufe des 21. Jahrhunderts signifikant vom heutigen Zustand abweichen wird. In der Deutschschweiz ist es im Verlauf des letzten Jahrhunderts rund 1,3 °C wärmer geworden. Dieser Trend wird sich laut Prognosen der Klimaforschung fortsetzen. Je nach Szenario und Region wird bis zum Ende des Jahrhunderts eine Zunahme der jahreszeitlichen mittleren Temperatur von 3,2-4,8 °C vorausgesagt.

Im Auftrag des Bundesamts für Energie und des Bundesamts für Umwelt hat eine Studie der Hochschule Luzern in Zusammenarbeit mit MeteoSchweiz die Folgen des fortschreitenden Klimawandels auf den Energiebedarf und die Behaglichkeit in Schweizer Wohnbauten bis ins Jahr 2100 untersucht («Bauen angesichts des Klimawandels», HLSU/BFE 2017). Der Wohnbaupark wurde dabei anhand von vier real existierenden Gebäuden repräsentiert – zwei Alt- und zwei Neubauten. In Simulationen wurde deren Verhalten in der Periode «2060» mit demjenigen in der Referenzperiode «1995» am Standort Basel verglichen. Dabei zeigten sich bedeutende Auswirkungen des Klimawandels auf den Energiebedarf und die Behaglichkeit in Gebäuden. Der durchschnittliche Bedarf an Heizwärme bei den Altbauten wird sich um 20 Prozent, bei den Neubauten um 30 Prozent reduzieren. Der Klimakältebedarf hingegen wird exponentiell ansteigen. Im Schweizer Mittelland wird er rund die Hälfte des Heizwärmebedarfs betragen.

 

Grafik: Erwartete Abweichung von der Mitteltemperatur für Winter und Sommer im Jahr 2060 (Quelle: www.nccs.admin.ch)

 

Weitere Simulationen an einem Referenzgebäude mit Minergie-Standard bestätigen das Bild: Die maximale Raumtemperatur in den Wohnräumen erhöhte sich dort vom Extremsommer 2003 zu einem warmen Sommer der Periode «2060» von 29,7 °C auf 32,0 °C. Die jährlichen Überhitzungsstunden stiegen dabei von etwa 200 auf 900 an. Die Erfüllung der Komfortanforderungen hatte massive Effekte auf den dafür erforderlichen Klimakältebedarf. Dieser erhöhte sich von weniger als 2,0 auf 8,2 kWh/m2a und würde den heutigen durchschnittlichen Heizwärmebedarf von 7,5 kWh/m2a übersteigen.

Simulationen am Standort Lugano zeigten die eindrücklichen Auswirkungen des Klimawandels in der Südschweiz auf: 2063 wurden dort 1400 Überhitzugsstunden berechnet, was nahezu einem Drittel des Sommerhalbjahrs entspricht. Der Klimakältebedarf erhöhte sich auf 18,4 kWh/m2a, der Heizwärmebedarf sank gleichzeitig auf 1,5 kWh/m2a. Die Beispiele verdeutlichen die künftige Verschiebung der Bedeutung der Bereitstellung von Heizwärme (Winterbetrachtung) hin zur Gewährleistung von behaglichen Räumen (Sommerbetrachtung).

Damit Gebäude über deren Lebenszyklus den Folgen des Klimawandels standhalten können, sind heute bereits Massnahmen zu treffen. Sie sind so zu konzipieren, dass die Effizienz von Sonnenschutz und Nachtkühlung sichergestellt werden kann. Eine Lösung dafür kann die Automatisierung der Systeme bilden. Angesichts des immensen Einflusses des Fensteranteils auf den Klimakältebedarf ist ein bewusster Umgang mit Fensterflächen zentral. Eine Balancefindung zwischen den Themenfeldern «solare Gewinne», «Überhitzungsproblematik» und «Tageslichtnutzung» bildet die Voraussetzung für eine Optimierung des Energiebedarfs und die Behaglichkeit in Gebäuden. Passive Kühlsysteme wie das Geocooling sind zudem in der strategischen Planung jeweils zu evaluieren.

Werden Neubauten so angedacht, dass sie dem steigenden Klimakältebedarf begegnen können, kann der Klimawandel, bzw. die daraus folgende Minderung des Heizwärmebedarfs, dazu beitragen, den Zielen der Energiestrategie näher zu kommen. Werden die Auswirkungen der höheren Aussentemperaturen nicht beachtet, drohen ein markanter Anstieg des Energiebedarfs oder viele Stunden mit unbehaglichem Raumklima.
 

Quellen: Swissbau Blog und «Bauen angesichts des Klimawandels», HLSU/BFE 2017

Einsatz effizenter Gebäudetechnik – ein enormes Potenzial

(cdh) – Um die Klimaziele zu erreichen und die Lebensqualität in der Stadt zu erhalten, ist eine intelligente Regelung und Steuerung von Gebäuden Voraussetzung. Das Einsparpotenzial von Heizungsanlagen durch die Digitalisierung bewertet die Technologiestiftung Berlin in einer Studie zur digitalen Zukunft von Gebäuden von 14 bis 26 Prozent. Gebäudeautomatik kann aber noch mehr als steuern und regeln: Intelligente Tools können technische Anlagen dynamisch und nutzerorientiert Überwachen und zur vorausschauenden Instandhaltung von Gebäuden beitragen oder das Teilen von Energie mit Nachbargebäuden erlauben.

Studie «Smart Buildings im Internet der Dinge. Die digitale Zukunft von Gebäuden.»,Technologie Stiftung Berlin, 2018



 

Gianrico Settembrini

Gianrico Settembrini, dipl. Arch. ETH/SIA, MAS EN Bau ist seit 2013 Senior Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Gebäudetechnik und Energie IGE. Er leitet die Forschungsgruppe «Nachhaltiges Bauen und Erneuern» und ist in der Zertifizierungsstelle Minergie® Zentralschweiz tätig. Seit 2016 ist er Prüfer für Anträge des Standards Nachhaltiges Bauen Schweiz SNBS 2.0 und 2000-Watt-Areal-Berater.