Wir sind nicht besonders gut darin, Risiken einzuschätzen

Wie Menschen mit Unsicherheit und Risiko umgehen, ist das Spezialgebiet des Soziologen und Risikoforschers Ortwin Renn.

asut: Wie definiert der Risikoforscher Risiko?

Ortwin Renn: Risiko bezeichnet ein mentales Konzept, mit dem wir die Möglichkeit einer Bedrohung charakterisieren. Wissenschaftler tun dies mit Hilfe von Statistik und Modellierungen, alle anderen bewerten Risiken auf der Basis ihrer Erfahrungen.

Sind wir Menschen gut darin, Risiko einzuschätzen?

Nicht besonders. Wir fürchten uns in der Regel vor dem Falschen – statt vor dem Verkehrsunfall etwa vor dem statistisch gesehen sehr viel unwahrscheinlicheren Flugzeugabsturz. Gleichzeitig neigen wir dazu, das wirklich Gefährliche zu unterschätzen. Die vier Dinge, vor denen wir uns am meisten fürchten sollten, sind Rauchen, Trinken, ungesundes Essen und Bewegungsmangel. Zusammen machen sie ungefähr zwei Drittel aller frühzeitigen Todesfälle in Deutschland aus. Ob wir uns vor etwas fürchten hängt weiter auch davon ab, inwieweit wir meinen, ein potentielles Risiko selber steuern zu können oder das Gefühl haben, ihm ausgeliefert zu sein.

Dazu kommt, dass wir Menschen die Fähigkeit besitzen, kausal zu denken. Es ist ein wichtiges Merkmal der Evolution, dass wir gelernt haben, Dinge miteinander in Beziehung zu setzen und dadurch auf unsere Umwelt einzuwirken. Wir können beispielsweise sagen: Weil A zu B führt, mache ich A, wenn ich B erreichen will. Kausale Zusammenhänge sehen wir oft dort, wo Ereignisse örtlich oder zeitlich nahe zusammenhängen. Doch anders als in der überschaubaren Welt unserer Vorfahren führt das in der komplexeren Welt von heute oft zu Fehlschlüssen: Dass ich oft Kopfschmerzen habe muss eben nicht zwingend damit zu tun haben, dass in meiner Umgebung ein Handymast steht.

Hat sich der Umgang mit dem Risiko im Lauf der Geschichte verändert?

Generell lässt sich sicher sagen, dass Gesellschaften, denen es gut geht, weniger risikofreudig sind. Warum sollte ich das Risiko auf mich nehmen, etwas zu verändern und dabei unter Umständen mein gutes Leben aufs Spiel setzen? Wo der Leidensdruck höher ist, bin ich eher bereit, ein Risiko einzugehen, um meine Lage zu verbessern.

Kommt daher die Technologieskepsis der Wohlstandsgesellschaften?

Möglich. Hier kommt aber sicher auch hinzu, dass ein Risiko, mit dem wir wenig Erfahrung haben oder das wir sinnlich gar nicht wahrnehmen können wie etwa die Mobilfunkstrahlung, bedrohlicher auf uns wirkt. Das Ungewisse macht uns Angst. Auch das ist durch die Evolution bedingt. Gegen bekannte Risiken können wir uns wappnen. Unbekannten Risiken hingegen fühlen wir uns ausgeliefert, wissen nicht, wie wir reagieren sollen und verlassen uns auf unser Bauchgefühl. Und das reagiert alarmiert, sobald wir etwas schlecht einschätzen können.

Wie zum Beispiel den abstrakten Begriff der Digitalisierung oder die Risiken von 5G?

Im Fall von komplexen neuen Entwicklungen müssen wir auf das vertrauen, was Wissenschaftler, Politiker und als Vermittler die Medien dazu sagen. Aber wem können wir, im Überangebot unserer Informationsgesellschaft, hier überhaupt Glauben schenken? Menschen, die keiner Seite mehr vertrauen, weil sie annehmen, dass alles Wissen im Dienst irgendeiner Interessensgruppe steht, bevorzugen dann ein Nullrisiko, um garantiert auf der sicheren Seite zu sein.

Bei der Risikowahrnehmung geht es oft weniger um eine konkrete Bedrohung als um das Gefühl von Bedrohung. Menschliches Verhalten hängt von Wahrnehmungen ab, nicht von Fakten. Wir haben zudem die Neigung, vor allem die Informationen zu speichern, die uns in unseren Ansichten und unserer Haltung bekräftigen. Die Forschung spricht vom «Confirmation Bias». Wer sich vor elektromagnetischer Strahlung fürchtet, wird diese Angst überall bestätigt sehen, wer hier kein Risiko sieht, wird dafür ebenfalls überall Beweise finden. Das macht den Dialog zwischen Befürwortern und Gegnern einer neuen Technologie so schwierig.

Mit statistischen Aussagen und Faktenchecks kommt man da nicht weiter?

Gefühle sind real vorhanden, die lassen sich nicht einfach ausschalten. Fakten und Zahlen allein helfen da nicht. Auch die Bestätigung, dass etwas objektiv viel besser läuft, als wir Menschen es wahrnehmen, ändert nichts daran, dass wir das als wahr annehmen, was wir wahrnehmen.

Helfen kann stattdessen, wenn sich alle Seiten an einen Tisch setzen. Dabei sind die Einwände und Wahrnehmungen aller ernst zu nehmen und anzusprechen. Man sollte den Menschen aber auch erklären, warum sie gewisse Risiken überbewerten. Und ihnen die Konsequenz ihrer Haltung vor Augen führen: Sind sie tatsächlich bereit, um beim Beispiel der Handystrahlung zu bleiben, auf Mobilfunk ganz zu verzichten oder lässt sich vielleicht ein Kompromiss finden? Viele merken dann, dass es in einer Pluralen Gesellschaft ein Entgegenkommen aller braucht, um eine lebenswerte Gemeinschaft für alle zu bilden.

Ortwin Renn

Prof. Dr. Ortwin Renn ist Wissenschaftlicher Direktor am «Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS)» in Potsdam, Gründungsdirektor am «Zentrum für Interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung» (ZIRIUS) der Universität Stuttgart und Geschäftsführer/wissenschaftlicher Direktor des gemeinnützigen Forschungsinstituts «Dialogik». Er sitzt zudem im Stiftungsrat der Schweizerischen Stiftung Risiko-Dialog. Zum Thema Risiko und Angst hat er 2019 das Buch «Gefühlte Wahrheiten. Orientierung in Zeiten postfaktischer Verunsicherung» (B. Budrich Verlag, Berlin) verfasst.