Der Aufrüttler: Ein Ruck muss durchs Land

Zeit aufzuwachen (Foto: piqsels).

 

Von Hannes Gassert

Liebe Menschen,

Die Schweiz ist langsam, aber das ist halt, weil wir die Sachen recht machen hier.

-- Und das Sterben geht weiter. 8283 Tote.

Die Schweiz ist pragmatisch, kompetent und vernünftig.

-- Und das Sterben geht weiter. 8283 Tote.

Die Schweiz ist zuverlässig, wissenschaftlich, modern, methodisch — und halt ein wenig langweilig.

-- Und das Sterben geht weiter. 8284 Tote schon.

Die Schweiz ist menschlich, humanitär. Das Menschenleben ist das Mass aller Dinge.

-- Und wieder stirbt jemand.

Unter den Toten ist unser Bild der Schweiz: Kompetent, zuverlässig, modern.

-- Wieder kommt ein Fax herein mit einer Meldung. 8285 Tote.

Wir müssen uns keine Sorgen machen, wir sind hier schliesslich in der Schweiz!

-- Unser Glaube daran: Auch er ist tot.

Denn wir haben in den vergangenen Monaten erlebt, wie wir zusammen versagt haben, wie das Virus uns kontrollierte, statt wir das Virus. In der Politik haben wir versagt, vor allem aber in deren Umsetzung. Das Versagen in einem Satz: Wir haben in der Politik nicht mit den Wissenschaften arbeiten können und wir haben in der Umsetzung der Massnahmen nicht mit Technologie arbeiten können.

Wir haben Contact Tracing betrieben mit Bleistift und Papier, wir haben viel zu lange nicht erfasst, was exponentielle Verbreitung wirklich bedeutet. Nicht erfasst, wieso eine taugliche Datengrundlage so zentral ist und darum die Daten auch nicht schlau erfasst. Wenn wir keine gesicherten Grundlagen haben, sieht die Vermutung, 5G-Mobilfunk bringe Corona, für viele oft genauso wahr aus, wie der aktuellste Stand der Wissenschaft.

Wir müssen auf den Weg finden, auf dem wir in unserer Geschichte auch schon hin und wieder waren. Wenn wir mussten. Einen Weg zu einer handlungsfähigen, nachhaltigen und wohlhabenden Schweiz, dank Wissenschaft und Technologie. Wir müssen sicherstellen, dass Technologie und Wissenschaft die Entscheide unseres Landes mit leiten und in deren Umsetzung kompetent und effizient eingesetzt werden. Zum Wohle aller.

Gehen wir zurück ins Frühjahr 2020. Das Virus war in den Augen fast aller, ganz sicher bei der offiziellen Schweiz, noch ein Thema weit weg, eins vor allem für die Chinesen. Einen ganzen Kontinent entfernt. Der «gesunde Menschenverstand» sagte: Nicht unser Problem.

Der «gesunde Menschenverstand» verstand nicht, dass China heute gleich nebenan liegt. Ungesund auch, wie er nicht verstand, was exponentielle Entwicklung heisst: Unser Haarwuchs, unser Kontostand, kaum etwas im täglichen Leben entwickelt sich 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256, 512, mit der Verdoppelung der Verdoppelung der Verdoppelung. Sondern eben mehr 1, 2, 3, 4, 5.

8238 Tote jetzt.

Als im Frühjahr die Zahlen stiegen, hatte niemand die Zahlen. Niemand sammelte und säuberte die Daten, um überhaupt informierte Entscheide fällen zu können. Kein «Erwachsener» war da, der den Überblick schon hatte. Ein einzelner Open-Data-Verfechter sammelte die Zahlen aus allen Kantonen, erfand ein Format für die Daten, und mit Gratis-Werkzeugen der Open-Source-Szene entstand eine Datensammlung. Ein strategisches Lagebild, die Quelle für die Medien und die höchsten Stellen der Regierung. Ein anderer Einzelkämpfer bereitet die Daten auf, visualisierte, machte sie sichtbar, lesbar und verständlich. Aus ein paar technischen Versatzstücken, mit Nachtarbeit und gutem Willen.

Mit Ansätzen, die in Politik und Verwaltung als Nerd-Plunder abgetan werden – nach wie vor. Open Source, das meint ihr doch nicht ernst. Open Data, da könnte ja jeder kommen. Damit kann man ja keinen Staat machen. Und doch: Genau das gehörte zu den ersten und besten Reaktionen auf die rasch eskalierende Krise.

Für die Zukunft müssen wir sicherstellen, dass die zeitnahe Bereitstellung hochwertiger Daten nicht durch Zufall geschieht, durch den guten Willen einzelner, sondern zur Regel wird, zur Normalität — zum Gesetz. Nicht in ferner Zukunft. Denn der nächste Krisenfall wartet nicht, bis wir dann mal parat sind. Die Klimakrise wartet nicht. Das nächste Virus wartet nicht bis dann. Die Gefahren aus der Geopolitik, der Geologie und noch ganz anderen Gegenden: Sie kommen.

8287 Tote sind es jetzt.

Das tut mir leid.

Als im Frühjahr die Zahlen stiegen, erfuhren wir, dass die Meldungen über neue Fälle handschriftlich erfasst und per Fax geschickt wurden. Die Auswertung erfolgte durch Wiegen des Papiers.

An der EPFL wurde in Rekordzeit eine Technologie entwickelt, um unsere Handys als Warnsysteme walten zu lassen. Aus der Schweiz kam der beste Vorschlag, am schnellsten, er wurde zum Standard der ganzen Welt. Apple baute ihn ein, Google baute ihn ein. Nicht wegen unserer politischen Macht. Sondern weil es der beste Vorschlag war.

Doch die Schweiz, die offizielle, interessierte das nicht. Jaja, die Wissenschaft. Ja diese Digitalisierung, gell das ist glaub schon wichtig, aber jetzt müssen wir uns um die wirklich wichtigen Sachen kümmern.

Und die unvergesslichen Worte von Ueli Maurer, ob er die App schon runtergeladen habe:«Nei, machi au nöd. Ich chume nöd drus mit dem Zügs.» Besser kann man die verpasste Digitalisierung in der Schweiz nicht ausdrücken.

8288 Tote.

Das kann ich nicht akzeptieren.

Masken schützen, sagte die Wissenschaft. Masken schützen nicht, sagte die Regierung. Machen wir einen Schritt zurück, versuchen wir das ganze Bild zu sehen.

Was wir dann sehen, ist kein Einzelfall. Keine Verkettung unglücklicher Umstände. Wir sehen eine Krise der Handlungsfähigkeit. Wir sehen ein Land, in dem die technologischen und wissenschaftlichen Kompetenzen von Politik, Behörden und Zivilgesellschaft derart unter den Anforderungen der Realität liegen, dass es gefährlich geworden ist. Gefährlich für unsere kollektive Fähigkeit, zu verstehen und adäquat zu handeln. Gefährlich, ganz konkret, für Leib und Leben.

Es braucht darum jetzt einen Effort, um das Verständnis und den effektiven wie effizienten Einsatz von Wissenschaft und Technologie zu fördern. Denn sie sind essenziell und grundlegend für eine gesunde Wirtschaft, unseren Wohlstand und das Gemeinwohl und für einen souveränen, agilen und handlungsfähigen Staat. Jetzt muss die Schweiz den sich rasch beschleunigenden technologischen Wandel aktiv mitgestalten, um ihn produktiv nutzen zu können. Nur so können Gesundheit und Zusammenhalt, Wohlstand und Freiheit auch in Zukunft gewährleistet werden.

Was tun? Wir müssen unsere Parlamente und unsere Verwaltung auf ein technologisch und wissenschaftlich nächstes Level bringen.

Wir müssen immer wieder vermitteln zwischen den Welten, immer wieder übersetzen und Hilfe leisten, da wo es eben geht. Das beste Weiterbildungsprogramm für ein Parlament heisst aber Wahlen. Die nächsten Wahlen werden auch Wissenschaft- und Tech-Wahlen, neue Köpfe, andere Köpfe braucht das Land.

Wir müssen die Regierung strukturell reformieren, sodass Technologie den gleichen Stellenwert erhält wie Verteidigung oder Finanzen. Denn wer noch denkt, dass man ohne Technologie noch verteidigen kann, der hat den Anschluss an die Realität des 21. Jahrhunderts verloren.

Wir müssen Daten als Infrastruktur verstehen, als notwendigerweise bereitzustellende Grundlage. Für die Entscheidungsfindung, aber auch für unsere Start-ups und KMUs. Daten als offen nutzbare Infrastruktur für alle, Open Data eben.

Wir müssen eine Bildungs- und vor allem Weiterbildungsoffensive starten, die anerkennt, dass die Fähigkeit zur Gestaltung neuer Technologien, die Fähigkeit zu programmieren, Daten zu analysieren und Fortschritt selber zu schaffen, kein «Nice-to-have» ist. Nicht in einem Land, dessen einzige Ressourcen Wissen und Kreativität sind. Nicht in einem Umfeld, das sich immer schneller wandelt. In einer Welt, die gerade nicht einfacher, friedlicher und gefahrloser wird.

2021 muss ein Ruck durch das Land gehen. Weg von einfachen Antworten. Hin zu Antworten, die durch Daten, Fakten und Methoden untermauert sind. Hin zu mehr Wissenschaftlichkeit.

2021 muss das Land zum Sprung ansetzen, zum Sprung sich Technologie zu eigen zu machen, sie verstehen und nutzen zu können zum Wohle aller.

Kompetent haben wir gesagt, zuverlässig und modern. Humanitär. Wir machen hier die Sachen recht, haben wir gedacht. Wenn wir vorwärts machen, schaffen wir es zurück zu einer solchen Schweiz. Dafür braucht sie aber nun ein Upgrade, diese Schweiz. CH++, würden wir Programmierer sagen.

Sonst verlieren wir mehr und mehr an ganz konkreter Handlungsfähigkeit. Sonst riskieren wir unsere Freiheit. Sonst riskieren wir Tote.

8288.

8289.

8290.

Ohne Wissenschaft, ohne Technologie geht so vieles einfach nicht mehr. Da können wir dann auch lange lustig Politik machen. Ohne die Fähigkeiten sie auch umsetzen zu können, können wir es auch lassen.

Tief drin wussten wir das eigentlich schon lange. Unser Wohlstand, unsere Sicherheit, unsere hohe Lebenserwartung — sie alle beruhen darauf. Und wir waren ja auch gut darin. Die Züge, die durch die Jahrhundert-Tunnel donnern und trotzdem auf die Minute genau ankommen. Die Uhren, in denen die kleinsten Zahnrädchen auf Tausendstelsekunden genau sind. Die Schweiz, das Land der Nobelpreisträger. Sogar das World Wide Web wurde hier erfunden. Wann haben wir vergessen, dass wir das können? Wann haben wir vergessen, dass wir das können müssen? Und wann haben wir vergessen, dass Wissenschaftlichkeit und angewandte, gestaltende technologische Kompetenz nicht Ausnahmefähigkeiten sind, sondern der Kern von dem, wer wir sind? In einem Land, das sonst nichts hat ausser Tatkraft, Wissen und Kreativität? Die Coronakrise hat uns gezeigt, was geschieht, wenn wir es vergessen.

Wir könnten es besser.

Machen wir es besser.

 

(cdh) – Obenstehender Text ist die Wiedergabe der «Winterrede», die Hannes Gassert im Januar dieses Jahres in Zürich hielt. Er hat es nicht bei der Rede belassen und Anfang März den Verein CH++ mitbegründet. Dieser macht es sich zum Ziel, das technische Know-how in der Schweiz überall dort zu fördern, wo es der Gesellschaft als Ganzes nützt: «Wir müssen aufpassen», sagt Hannes Gassert im Gespräch, «dass das Bild, das wir von der Schweiz haben, das Bild dieses grossartigen, wohlhabenden Landes und seiner Innovationskraft, am Ende nichts weiter bleibt als eine Vorstellung.»

Und deshalb gelte es, die dringlichen Fragen nun anzupacken: «Und dazu gehört nicht nur ein brauchbarer elektronischer Impfausweis. Ein brauchbares elektronisches Patientendossier und eine brauchbare E-ID sind genauso dringlich.» Dass es bei der Umsetzung des technologischen Wandels harzt, sieht Gassert nicht als Generationenproblem: «Das Problem ist eher, dass sich in Verwaltung und Politik viele zwar bewusst sind, dass der Strukturwandel passieren muss, gleichzeitig aber bremsen, weil ja im Moment alles noch einigermassen funktioniert.» Das sei verständlich, in einer Zeit, in der sich alles ständig beschleunigt, aber hochgradig riskant. CH++, zu dessen Mitgliedern 14 (mehrheitlich junge) Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Wirtschaft gehören, will hier als Vermittler auftreten und einen Beitrag dazu leisten, dass Wissenschaft, Verwaltung und Politik anders und besser kooperieren.

Hannes Gassert, Jahrgang 1981, erinnert sich, als Teenager erstmals mit Internet in Berührung gekommen zu sein: «Das hat mir eine Welt eröffnet und mich stark beeinflusst. Logisch, dass die noch Jüngeren, die von Anfang an damit aufgewachsen sind und nichts anderes kennen, sich in vielen Dingen grundlegend anders verhalten.» Er sehe das in seinem Unternehmen, der Digitalagentur Liip, bei der Selbstorganisation, keine hierarchischen Strukturen, kein Gewinnstreben, Teilzeit und flexible Arbeitszeiten für alle zur Firmenkultur gehören: «Und zwar nicht aus Gutmenschentum, sondern weil es das Modell ist, das besonders gut auf Köpfe passt, die sich im Internet geformt haben. Für die steht immer die Frage des Zwecks im Vordergrund. Und sie halten, in einer von Unsicherheit, Wandel und deshalb ständig teilweise überholtem und damit inkompletten Wissen geprägten Zeit, wenig von Hierarchien, starren Rollen und Organisationsformen.»

Hannes Gassert

Hannes Gassert, hat in an der Universität Freiburg zweisprachig Informatik und Medienwissenschaften studiert. Er ist Mitgründer und Verwaltungsratsmitglied der Digitalagentur Liip sowie Mitgründer und Vizepräsident des Vereins Opendata.ch. 2018 wurde er vom Bundesrat in den neunköpfigen Stiftungsrat der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia gewählt.