Edge Computing: Näher an der Quelle

Von Ulrich Schimpel

Edge Computing bringt professionelle Anwendungen und Systeme näher an den Ort, wo Daten generiert werden und Aktionen bzw. Entscheidungen stattfinden sollen. Dabei kommen teilweise sehr leistungsstarke Endgeräte (Edge Devices) und dezentrale Server (Edge Nodes) zum Einsatz.

Was ist Edge Computing genau und warum sollte uns das interessieren? Und ist das nicht ein Widerspruch zum gepredigtem «Cloud-Mantra»?

Letztere Frage kann vorerst kurz und bündig mit «Nein» beantwortet werden – dazu aber später mehr. Zur ersten Frage: Edge Computing ist ein ganzheitlicher Ansatz, um verfügbare Rechenkapazitäten mobiler Endgeräte und Sensoren – also kurz «IoT» – stärker zu nutzen und so Aktionen und Entscheidungen im Ökosystem des Unternehmens besser und schneller durchzuführen bzw. zu treffen. Heute passiert es oft, dass Daten von Produktionsumgebungen oder mobilen Endgeräten aus Gründen fehlender (Übertragungs-)Kapazität, zu hoher Latenzzeiten oder mangelnder Datenstrukturen weder übertragen werden noch in (zentrale) Entscheidungen einfliessen. Dabei ist es oft mehr als vorteilhaft, Analysen und Entscheidungen regelkonform dezentral vorzunehmen – mit sämtlichen vorhandenen Informationen wie Videos, Bilder, Audios und Echtzeitdaten.

Wie kommt jetzt die Cloud ins Spiel?

Zum einen bietet sich die Cloud weiterhin als exzellente Lösung an, solange die Datenmengen und Latenzzeiten gering sind. Zum anderen lassen sich auch mit grossen Datenmengen die Vorzüge von (mobilen) Endgeräten und Cloud-Lösungen optimal kombinieren. Ein Beispiel ist die Analytische Datenreduzierung und Auswertung (ADA): Der Hauptteil der Daten wird in der lokalen Produktionsumgebung bzw. dem mobilen Gerät ausgewertet, wobei auch zentrale «Policies» und Rahmenbedingungen garantiert werden können. So wird vor Ort entschieden, ob und welche Daten zur weiteren Verarbeitung, Entscheidung, Alarmierung oder Dokumentation weitergeleitet werden sollen – und wohin. Oft werden nur Meta-Daten weitergeleitet, was die Datenmenge und Kommunikationszeiten stark reduziert und eine umfassende Verschlüsselung ermöglicht.

Löst 5G nicht das Problem, sämtliche Analysen zentral durchführen zu können?

Nein. Die Menge an Echtzeitdaten und die Anforderungen von (lokalen) zeitkritischen Entscheidungen nehmen beispielsweise in modernen Produktionsstätten so rasant zu, dass 5G-Netze nur gezielt eingesetzt werden können. Eine Kombination von 5G und Edge stellt, je nach Situation, ein sehr interessantes Potential für neuartige und höchst leistungsfähige Prozesse, Services und Produkte dar.

Wie kann man sich den Aufbau einer Edge Computing Infrastruktur grob vorstellen?

Je nach Anzahl der Endgeräte und deren geographischen Verteilung wählt man eine mehr oder weniger umfangreiche Architektur, die Edge Nodes mit der zentralen Unternehmensinfrastruktur wie einer Hybrid Cloud verbindet, siehe Abbildung unten.

 

 
Exemplarisches Schema einer mehrstufigen Edge Computing Architektur

 

Typische Edge Devices sind mobile Geräte, Video Kameras, Autos oder Fertigungszellen. In einem Netzwerk kann ihre Anzahl in die Zehntausende gehen. Sie kommunizieren direkt mit anderen Edge Devices oder mit einem grösser dimensionierten Edge Server – beispielsweise für aufwändigere Berechnungen.

Typische Edge Server, Gateways und Network Edges sind Kreuzfahrtschiffe, regionale Distributionszentren, Produktionsstätten oder Geschäftsfilialen – in verschiedenen Grössen. Sie verwalten und verteilen Arbeiten (Workloads) ausserhalb der traditionellen Daten- und Rechenzentren, oftmals in entfernteren und manchmal auch isolierten Geographien. Von ihnen gibt es in einem Netzwerk normalerweise Dutzende bis Hunderte.

Für eine optimale Skalierbarkeit, Flexibilität und Agilität empfiehlt es sich sehr, bereits von Beginn auf moderne Cloud Konzepte wie Container, Kubernetes und Docker zu setzen. Workloads werden dabei als sogenannte «Micro-Services» konzipiert und als «Container» individuell oder als Gruppe im Netzwerk zur Verfügung gestellt. Je nach bestehenden Regeln oder Vereinbarungen werden diese Micro-Services und Workloads auf die Edge Nodes mit freier Kapazität zur Bearbeitung verteilt. Mit dem Edge Computing Ansatz lassen sich auch Maschinelles Lernen bzw. Künstliche Intelligenz bei den verschiedenen Edge Nodes einbinden. Der interessierte Leser sei an dieser Stelle an die umfangreichen Informationen im Internet oder die Fachliteratur verwiesen1,2.

Dann ist Edge Computing ein reines «Industrie 4.0» Phänomen?

Edge Computing eignet sich für Anwendungen weit über «Industrie 4.0» und B2B hinaus. Eine Autoversicherung könnte beispielsweise einen Sofort-Service im Schadensfall anbieten. Die Unfall-App auf dem Mobiltelefon kommuniziert mit dem On-Board-Diagnose System des Autos, um erste Informationen über das Auto und vorhandene Schadensmeldungen direkt auf dem Handy auszuwerten. Hinzu kommen Bilder und Videos vom Schaden, die vor Ort einer ersten Analyse unterzogen werden, um im Dialog mit dem Fahrer weitere Details abzufragen oder weitere Bilder anzufordern. Die Unfall-App entscheidet auch, welche Informationen und Bilder zur weiteren Analyse an den nächsten Edge Server weitergegeben werden. Dort erfolgt eine Detailanalyse, die vergleichbare Schäden und erforderliche Reparaturen weltweit sucht und auf Basis von lokalen Stundensätzen und Kapazitäten bei Vertragsgaragen binnen von Minuten eine verbindliche Offerte für die Schadensbehebung erstellt. Neben der Versicherung kann auch die beauftragte Garage auf wichtige Eckdaten zugreifen, um die Reparatur besser zu planen und fehlende Ersatzteile sofort zu bestellen.

Insgesamt bietet Edge Computing sehr mächtige und interessante Optionen, um Analysen und Entscheidungen auf Basis möglichst umfangreicher (Echtzeit-)Daten möglichst nah an dem Ort vorzunehmen, wo die Daten anfallen und Aktionen ausgeführt werden müssen. Durch die Verwendung moderner Cloud Technologie lässt sich eine optimale Skalierbarkeit, Flexibilität und Agilität erreichen. Konzepte des Maschinellen Lernens und der Künstlichen Intelligenz ergänzen Edge Computing dabei optimal.

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1) https://www.ibm.com/downloads/cas/O8YVJY9Z

2) https://www.ibm.com/cloud/edge-computing

Ulrich Schimpel

Dr. Ulrich Schimpel ist Chief Innovation Officer bei IBM Switzerland und Mitglied der IBM Corporate Strategy Organization.