Die Bahn als Zukunftshoffnung

 

SBB-CEO Vincent Ducrot erklärt im Interview, warum er fest von den Klimavorteilen der Bahn überzeugt ist und weshalb er es für unumgänglich hält, dass die SBB  zunehmend zum digitalen und persönlichen Mobilitätsdienstleister werden.

asut: Die Bahn ist eines der ältesten Verkehrsmittel und heute (zumindest in ihrer elektrisch betriebenen Form) gleichzeitig Zukunftshoffnung: Das freut Sie als Bahn-Chef sicher?

Vincent Ducrot: Ja sehr. Dieses Jahr feiern wir 175 Jahre Schweizer Bahnen. 1847 fuhr die erste Eisenbahn zwischen Zürich und Baden und legte damit den Grundstein für die industrielle und gesellschaftliche Entwicklung der Schweiz. Die Jubiläumsfeste für die Bevölkerung an schweizweit insgesamt fünf Wochenenden hat einmal mehr gezeigt, dass Begeisterung und Rückhalt für den ÖV Schweiz im Land immens sind. Die Welt hat sich stark verändert in 175 Jahren, die Bahn hat sich ebenso weiterentwickelt. Und sie hat Zukunft, nicht zuletzt als das klimafreundlichste und energieeffizienteste Verkehrsmittel.

 

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Noch ist das Klimapotenzial aber nicht erreicht: Die SBB wollen ab 2030 klimaneutral sein. Ein realistisches Ziel? Welches sind die geplanten Etappen?

Dieses Ziel ist tatsächlich sehr ambitiös. Wir unternehmen viel, um unseren CO2-Ausstoss zu verringern. Die Züge der SBB fahren schon heute mit 90 Prozent Energie aus Wasserkraft. Es ist unsere Absicht, den Anteil in den nächsten Jahren auf 100 Prozent zu erhöhen. Ein anderer wichtiger Schritt ist, dass sämtliche Neu- und Ersatzbeschaffungen – etwa bei Gasweichenheizungen oder dieselbetriebenen Fahrzeugen – mit erneuerbarer Energie, und nicht mit fossilen Brenn- und Treibstoffen erfolgen. Zudem werden ab 2030 alle Gebäude der SBB mit erneuerbaren Energien beheizt und die Strassenfahrzeuge mit alternativen Antrieben ausgerüstet sein.

Kann eine mögliche Strommangellage diese Pläne durchkreuzen?

Ich denke eher nein. Die SBB benötigt zwar sehr viel Strom, ist zugleich aber eine der grössten Stromproduzentinnen der Schweiz. Wir erzeugen einen grossen Teil des Bahnstroms für unser eigenes Netz und andere Bahnunternehmen. Wegen der Trockenheit und um die Stauseen möglichst gefüllt zu halten, haben die Wasserkraftwerke in diesem Sommer allerdings nur wenig produziert. Dies, damit die SBB auch in einer Mangellage eigenen Strom erzeugen und damit das Bahnangebot grösstmöglich aufrechterhalten kann. Deshalb wird die SBB diesen Winter – gleich wie die restliche Schweiz – Strom einkaufen müssen. Dies wird unser Jahresergebnis zusätzlich belasten. Im Vordergrund steht aktuell aber das Energiesparen: Als Mitglied der Energiespar-Allianz setzen wir fortlaufend neue Massnahmen um, aktuell unter anderem mit der Temperaturreduktion in den Zügen, wo möglich um bis zu zwei Grad, oder der Reduktion der dekorativen Beleuchtung in den 30 grössten Bahnhöfen.

Was ist für die Bahn relevanter: Wasser oder Sonne?

Beides ist wichtig, Wasserkraft und Sonnenenergie. Die SBB hat acht eigene Wasserkraftwerke und ist an Partnerkraftwerken beteiligt. Im Sommer ist die Stromproduktion immer einfacher. Es ist aber keine Frage, dass auch die SBB im Winter mehr Strom erzeugen müssen. So ist es durchaus vorstellbar, dass wir künftig in den Bergen Solarpanels aufstellen – etwa auf den Staumauern unserer Wasserkraftwerke. Wir werden sowohl in Wasserkraft wie auch in Fotovoltaik investieren.

Welche Rolle spielt die Digitalisierung? 

Die Mobilität befindet sich mitten in einem tiefgreifenden Wandel: Die Mobilitätsbedürfnisse der Kundinnen und Kunden ändern sich und werden volatiler, neue Anbieter drängen in den Markt. Gefragt sind zunehmend individualisierte, intermodale Mobilitäts- und Logistiklösungen für unsere Kunden. Dabei flexibilisiert die SBB das Bahnsystem mithilfe der Digitalisierung im Kerngeschäft, von der Planung bis zur Bahnproduktion.

Als Rückgrat und treibende Kraft im öffentlichen Verkehr kombiniert die SBB die Stärken der Bahn mit dem Potenzial von neuen Mobilitätsträgern – dies auf der ganzen Reisekette. Dabei wird die SBB zunehmend zum digitalen und persönlichen Mobilitätsdienstleister. Digitalisierung und neue Technologien bieten Chancen, die einzelnen Elemente der integrierten Bahn besser zu vernetzen und die erste und letzte Meile effizienter zu erschliessen. Die SBB befindet sich auf der digitalen Ebene im Wettbewerb mit vielen anderen Akteuren. Hier braucht es klare und faire Regeln mit gleich langen Spiessen für alle.

 

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Die Verlagerung von immer mehr Verkehr auf die Schiene ist praktizierter Umwelt- und Klimaschutz: Müssen wir dafür eine stetig steigende Lärmbelastung in Kauf nehmen?

Nein. Die SBB ist seit Jahren europaweit Vorreiterin beim Schutz der Bevölkerung vor Bahnlärm – sei dies dank umfassenden Lärmsanierungsprogrammen von Personen- und Güterwagen oder Schallschutzmassnahmen entlang von Bahnlinien. Die Gesamtlänge von Lärmschutzwänden entlang unseres Bahnnetzes beträgt mittlerweile rund 400 Kilometer.

Seit Januar 2021 führt die SBB ein Kompetenzzentrum zur Thematik der Kreislaufwirtschaft. Ein weiterer Weg zur Klimaneutralität?

Ja, und die SBB nimmt bei der Kreislaufwirtschaft eine Vorreiterrolle ein. Da gibt es eine breite Palette an Projekten. Wir sind eine der grössten Auftraggeberinnen der Schweiz, pro Jahr vergeben wir Beschaffungen von rund sechs Milliarden Franken. Hier kann die SBB eine massgebliche Rolle in der Kreislaufwirtschaft einnehmen, und das machen wir auch – indem wir die Menge an Primärrohstoffen reduzieren, die Nutzung verlängern und intensivieren und Material aktiv in Kreisläufen erhalten.

Ist eine Netto-Null-Mobilität per Definition eine eingeschränkte Mobilität, d.h. müssen wir weniger mobil werden und weniger reisen oder einfach anders?

Mobilität verändert sich. Manchmal sogar disruptiv, wie während den Lockdowns in der Corona-Pandemie. Sicher noch wichtiger wird in Zukunft sein, möglichst nachhaltig und energieeffizient zu reisen. Und da wird die Bahn auch künftig die Nase vorne haben. Letztlich aber ist und bleibt es ein Zusammenspiel der Verkehrsträger, denn die meisten Leute sind heute multimodal unterwegs. Die SBB sieht sich hier in einer integrativen Rolle: Über unser Verkaufssystem gibt es nicht «nur» Zugtickets, sondern wir bieten auch Trottinette oder Parkplätze an. Da braucht es eine möglichst breite Palette an Angeboten; hier sehe ich noch sehr viel Potenzial.

Bezahlen wir heute zu viel oder zu wenig fürs Bahnfahren? Und: Sollte der ÖV in einer klimaneutralen Gesellschaft im Interesse der Allgemeinheit nicht möglichst grosszügig subventioniert werden?

Die Billettpreise werden vom Branchenverband Alliance SwissPass festgelegt. Schon das siebte Jahr in Folge gibt es nun keine allgemeine Preiserhöhung im öffentlichen Verkehr. Die Branche will trotz gestiegenen Preisen, der Teuerung, die Preise stabil halten. Wie stark der ÖV insgesamt subventioniert werden soll, ist Sache der Politik. Letztlich bietet der ÖV-Schweiz ein hervorragendes Netz mit einem sehr breiten Sortiment.

Der Anteil der Strasse ist heute sowohl beim Personen- wie auch beim Güterverkehr höher als der Anteil der Schiene (insbesondere innerhalb der Schweiz). Was braucht es zur Stärkung des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz: Seitens der ÖV-Betreiber, seitens der Politik und seitens der Bevölkerung?

Je mehr Menschen ihre Reisen mit dem öffentlichen Verkehr unternehmen, desto geringer ist die CO2-Belastung der Gesamtmobilität in der Schweiz. Die Steigerung des Modalsplits des öV trägt so zum Klimaschutz und einer nachhaltigeren Mobilität bei. Die SBB setzt sich seit langem aktiv für eine Erhöhung des Modalsplits des öV ein und wird dies auch in Zukunft tun. Jüngste Beispiele sind der Léman Express und die S-Bahn Tessin. Wir wollen unsere Flexibilität in der Fahrplangestaltung erhöhen und unterschiedliche Mobilitätsformen integrieren. Wir sind überzeugt, dass intelligentes Wachstum im Kerngeschäft der integrierten Bahn möglich ist.​ Jedoch kann eine substanzielle Erhöhung des Modalsplits nur erreicht werden, wenn die Transportunternehmungen grosse Anstrengungen leisten, kombiniert mit weiteren, verkehrsträgerübergreifenden Massnahmen, etwa in den Bereichen der Raumplanung und Angebotsentwicklung. Daneben braucht es Rahmenbedingungen und Hebel seitens der Politik.

Noch ist das Zukunftsmusik, aber: Könnten selbstfahrende Autos und Lastwagen mit dem Versprechen der individualisierten Punt-zu-Punkt-Verbindung den Zug verdrängen?

Selbstfahrende Fahrzeuge könnten dereinst Vorteile bringen in der Feinverteilung und die Erreichbarkeit von Bahnhöfen verbessern. Aber die Stärken der Bahn bleiben, im Personen- wie im Schienengüterverkehr: Sie ist klimafreundlich und effizient, und sie bringt grosse Massen über lange Strecken raumschonend ans Ziel.
 

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Die Fragen stellte Christine D'Anna-Huber. Dieses Interview wurde schriftlich geführt.

Vincent Ducrot

Vincent Ducrot ist der CEO der SBB und führt damit das grösste Verkehrsunternehmen der Schweiz.