Intelligent und schlau ist nicht dasselbe

ASTRA-Direktor Jürg Röthlisberger verspricht sich viel von intelligenter Mobilität. Er ist aber auch überzeugt davon, dass sie ihre positiven Potenziale ohne flankierende Massnahmen nicht verwirklichen kann.

 

asut: Der Verkehr in der Schweiz nimmt fortwährend zu, gleichzeitig wird unser Land aber nicht grösser, das heisst, wir stehen im Stau. Kann uns die intelligente Mobilität aus der Patsche helfen?

Jürg Röthlisberger: Auch die Bevölkerung wächst. Nach den neusten Zahlen des Bundesamts für Statistik und des Bundesamts für Raumentwicklung geht die Schweiz auf gut 10 Millionen Einwohner zu und zwar sehr rasch. Gleichzeitig ist sie eine alternde Gesellschaft mit hoher finanzieller Potenz. Das Mobilitätsbedürfnis wird also weiter zunehmen. Das bedeutet, dass wir zusätzliche Strassenflächen werden bauen und weitere ÖV-Angebote werden bereitstellen müssen.

 

Den bestehenden Strassenraum effizienter, intelligenter und intensiver nutzen reicht allein also  nicht ?

Schon heute haben wir rund 50 Prozent Freizeitverkehr und dieser Anteil wird in einer Gesellschaft mit vielen relativ wohlhabenden Pensionierten sicher nicht abnehmen. Gleichzeitig sind die Möglichkeiten, das Verkehrssystem weiter auszubauen, nicht unbeschränkt. Nehmen wir den Baregg-Tunnel. Da haben wir heute drei Röhren, werden im Auftrag des Parlaments gerne mit Ach und Krach noch eine vierte dazu bauen, aber eine fünfte können wir nicht mehr ins Verkehrssystem integrieren. Das gleiche gilt für den ÖV. Schon heute können wir unsere Engpassprogramme kaum mehr realisieren, z. B. weil wir die zusätzlichen Flächen nicht mehr erhalten oder diese schlicht nicht mehr verfügbar sind. In dieser Hinsicht hat das ASTRA also ein grosses Interesse daran, die Potenziale der intelligenten Mobilität auszuschöpfen.

 

Wo sehen Sie diese vor allem?

Sicher einmal bei der Verträglichkeit: Das ganze Verkehrssystem wird durch die intelligente Vernetzung nicht nur ökonomischer, sondern ganz klar auch ökologischer. Dann die Sicherheit:  In diesem Bereich ist die Schweiz schon heute top. Ihre Sicherheitskonzepte, insbesondere in Bezug auf Aus- und Fortbildung, Kontrolle und Infrastruktur, haben international Vorbildcharakter. Aber durch den Einsatz von intelligenten Systemen kann die Verkehrssicherheit weiter gesteigert werden: Roboter sind nun einmal weniger fehleranfällig als der Mensch. Doch der wichtigste Punkt für uns ist die Verfügbarkeit. Sie ist im ÖV heute noch gegeben, Züge und Busse sind manchmal zwar sehr voll, verkehren aber nach Fahrplan. Im motorisierten Individualverkehr hingegen haben wir diese Verlässlichkeit praktisch verloren. Obwohl die Schweizer Bevölkerung allein in den Ausbau des Nationalstrassennetzes rund 100 Milliarden Franken investiert hat, sind Reisezeiten heute nicht mehr planbar und berechenbar. Dieses Gut können wir unseren Kundinnen und Kunden zurückgeben, wenn wir lernen, besser zu nutzen, was wir schon haben.

 

Um den Verkehrskollaps zu vermeiden, muss die Mobilität also intelligent werden?

Intelligenz per se muss nicht unbedingt positiv wirken. Führt sie beispielsweise hauptsächlich dazu, dass Mobilität als Gut noch billiger wird, dann haben wir am Ende einfach noch mehr Verkehr und noch weniger Verfügbarkeit. Positiv wirkt die Intelligenz nur dann, wenn es gelingt, sie dahingehend einzusetzen, verfügbare Ressourcen klüger und haushälterischer zu nutzen, etwa indem der Belegungsgrad der vorhandenen Fahrzeuge verbessert wird. Heute beträgt er zu Spitzenzeiten gerademal 1,1 Personen. Im Bereich der Mobilität kommt allerdings komplizierend dazu, dass hier Emotionen eine grössere Rolle spielen als die Rationalität. Das weiss die Automobilindustrie zum Beispiel sehr gut: Sie verkauft nicht Autos, sie verkauft Träume. Mit dem Gut Mobilität – in den Spitzenzeiten – rationaler umzugehen, die Emotionalität aus dem System zu nehmen, das wird nicht allen sympathisch ein.

Der Gesetzgeber muss die Entwicklungen in der Mobilität deshalb sehr gut beobachten und allenfalls Einfluss nehmen, auch wenn das nicht besonders populär ist. Wahrscheinlich wird es uns nur mithilfe von flankierenden Massnahmen gelingen, den Steuerzahlern die Verlässlichkeit der Reisezeit zurückzugeben und die negativen Effekte der intelligenten Mobilität in Schach zu halten. Selbstverständlich sollen dabei die Wahlfreiheit des Verkehrsträgers gewahrt und der allgemeine Zugang zur Mobilität nicht geschmälert werden, ganz im Gegenteil.

 

Flankierende Massnahmen heisst Mobility Pricing ?

Zum Beispiel. Mobility Pricing, Verkehrsleitsysteme und ganz allgemein Anreizsysteme, um erwünschte Entwicklungen zu unterstützen und unerwünschte einzudämmen. Die Verkehrsteilnehmer sollen dabei nicht mehr zahlen, aber anders.

 

Das ist, sie haben es schon angedeutet, nicht unbedingt ein populärer Ansatz.

Nein, solche Entwicklungen anzustossen ist sehr anspruchsvoll. Wir stehen im ständigen Dialog mit Industrie, Forschung und internationalen Gremien. Wir arbeiten daran, Allianzen zu bilden, die technischen und planerischen Voraussetzungen zu schaffen, Zulassungsfragen zu lösen und das Strassenverkehrsrecht anzupassen. Vor allem aber müssen wir mit diesen Themen an die Öffentlichkeit treten. Gerade deshalb sind Plattformen wie das asut-Kolloquium so wertvoll.

Mobility Pricing beispielsweise ist im Prinzip ja zunächst ein reines Kommunikationsprojekt. Wir müssen unseren Kunden ganz nüchtern die Alternativen aufzeigen: Entweder fahren wir so weiter wie bisher, leisten uns die Illusion der totalen Freiheit, zahlen viel für wenig Verlässlichkeit. Oder aber wir gewinnen die Verlässlichkeit zurück und verzichten dafür zu Spitzenzeiten auf ein Stück Wahlfreiheit, indem wir zum Beispiel zusammenfahren, wo wir heute alleine unterwegs sind.

 

Gäbe es, als dritte Möglichkeit, nicht auch die, der Umwelt zuliebe auf die heutige ausufernde Mobilität zu verzichten und unsere Städte, unser Arbeitsleben und unsere Freizeit ganz neu zu denken?

Der Auftrag des ASTRA ist es, der Bevölkerung die Verlässlichkeit zurückzugeben, ein Gut für das sie viel Geld bezahlt und das sie verloren hat. Alles andere ist eine gesellschaftspolitische Debatte, die nicht vom ASTRA ausgehen kann. In Pyongyang wäre die Diskussion wohl rasch geführt, in einem demokratischen Land wie der Schweiz sieht es zum grossen Glück anders aus. Ich persönlich fände es nicht gut, gewisse Möglichkeiten und Träume von Anfang an auszuschliessen. Und die zwangsläufige Entvölkerung der ländlichen bzw. peripheren Gebiete, die eine verminderte Mobilität mit sich bringen würde, scheint mir auch kein guter Ansatz. So viel negative Nebenwirkungen der Verkehr auch haben mag, er ist immer noch ein sehr gutes Indiz für Prosperität, Wohlstand und Wohlfahrt.

 

Kommen wir zurück zur intelligenten Mobilität. Was ist das denn eigentlich ganz konkret: das selbstfahrende Auto, Verkehrsleitsysteme…?

Abstandradars und andere Assistenzsysteme allein reichen nicht, um von intelligenter Mobilität zu sprechen. Solange jeder mit Sensorik bestückte Fahrzeugkokon für sich allein unterwegs ist, haben wir es lediglich mit Autonomie zu tun. Intelligent wird es dann, wenn die Vernetzung dazu kommt und Daten im Spiel sind. Erst im Zusammenspiel erschliesst sich das volle Potenzial der intelligenten Mobilität. Wenn die Autos untereinander und mit der Infrastruktur vernetzt sind, besteht für den Betreiber die Möglichkeit, für die Kundschaft lenkend tätig zu werden. Dann kann er den einzelnen Verkehrsteilnehmern Slots anbieten, Informationen zum Verkehrsaufkommen geben, zur besten Route, zum idealen Tempo und dazu, wann der reservierte Parkplatz am anderen Ende frei wird. Dann holen wir die Potenziale der Intelligenz ab und die Reise wird wieder verlässlich, planbar und wohl auch günstiger und ökologischer.

 

Das wird nicht morgen sein.

Meine Vision für 2050 wäre, dass alles, was sich in den Spitzenzeiten auf der Strasse bewegt, vernetzt ist. Auf den Hauptachsen und bei den Schnittstellen zu den Parkplätzen dürfte es schon etwas früher sein. Zurzeit sind wir ganz klar noch in der Phase der Teilautonomie, da läuft auch bei den Autoherstellern sehr viel.

In Richtung Intelligenz gehen wir allerdings erst, wenn auch Fahrzeuge verschiedener Marken untereinander vernetzt werden können. Solche Schnittstellenfragen können aber nicht gelöst werden, solange jeder Hersteller eifersüchtig auf den riesigen Datenmengen sitzt, die er selber sammelt. Jeder hütet sein Geschäftsmodell, statt auf die Skaleneffekte und die riesigen Möglichkeiten zu setzen, die ein offener Umgang mit diesen Daten mit sich bringen würde. Auch wir als Behörde hätten für Verkehrsmanagement, Infrastrukturüberwachung und Zustandserhaltung grosses Interesse daran, Zugang zu diesen Datenströmen zu bekommen. Heute müssen wir sehr viel Geld – nota bene Steuergeld – investieren, um uns solche Informationen zu beschaffen. Um hier den Mehrwert auch für die Bürger und das Gemeinwesen abzuschöpfen, braucht es eine Bundesstrategie. Die „Strategie digitale Schweiz“ und ihr Aktionsplan, die der Bundesrat dieses Jahr auf den neusten Stand gebracht hat, geht genau in diese Richtung.

 

Vor Kurzem haben SBB, BMW und ETH ein Pilotprojekt für ein umfassendes Mobilitätspaket vorgestellt, allerdings kostet es stolze 12'000 Franken pro Jahr und Nase… Ist eine vernetzte, nachhaltige Mobilität nur etwas für Wohlhabende?

Ich finde diesen Ansatz sehr gut. Er ist ein erster Schritt in Richtung von Mobility as a Service. Nicht ganz billig, das stimmt, aber das Ganze ist auch mittel- und tiefpreisig denkbar, mit mehr oder weniger ÖV- oder Veloanteil und einem kostengünstigeren Fahrzeug. Diese Vision einer multiplen Verkehrswelt ist ein sehr realistisches Szenario. Die Frage, die sich mir stellt ist viel eher, ob es dadurch am Ende weniger oder mehr Verkehr geben wird und inwiefern Anreize geschaffen werden müssen, um auch das Nutzerverhalten zu ändern und beispielsweise daraufhin zu wirken, dass drei oder vier Personen aus dem gleichen Quartier ein solches Angebot zusammen teilen. Dann hätten wir gewonnen.

 

Wie wird sich die Vernetzung auf den ÖV auswirken?

Er dürfte von der Entwicklung am stärksten betroffen sein. Wir leisten uns heute ein recht ineffizientes ÖV-System. Nicht in Bezug auf die Qualität des Angebots, aber was den Kostendeckungsgrad betrifft: die Hälfte der Kosten trägt die öffentliche Hand bzw. der Strassen (-Güter-) verkehr. Der Grund dafür ist, dass unsere Züge, Busse und Postautos zu Spitzenzeiten zwar voll sind, die übrige Zeit aber praktisch leer verkehren. Da müssen wir uns schon überlegen, warum auf gewissen Strecken in Zukunft nicht ein autonomes Postauto «on demand» verkehren sollte, so wie es die Post zurzeit im Wallis testet. Auf lange Distanzen und mit hohen Geschwindigkeiten ist „das Stahlrad“ hingegen wohl weiterhin ausgesprochen effizient. Aber werden wir uns angesichts einer alternden Gesellschaft und der Verteuerung des Gesundheitswesens ein flächendeckendes letztlich nicht selbstfinanziertes ÖV-Netz weiterhin leisten können und wollen, wenn doch Alternativen absehbar sind? Hier kommt eine Strukturdebatte auf uns und unsere Kinder zu, die wir ohne Scheuklappen führen sollten.

 

Was ist Ihre Botschaft an die ICT-Branche ?

Ich möchte zuerst einmal allen, die hier mitmachen und mitdenken ganz herzlich danken. Da ist, neben absolut legitimen kommerziellen Beweggründen, nämlich auch viel Idealismus im Spiel. Wichtig ist für mich das Bewusstsein, dass intelligente Mobilität nicht zwingend in die richtige Richtung gehen muss, sondern durchaus auch negative Auswirkungen haben kann. Intelligent bedeutet nicht immer auch schlau. Wir müssen diese Debatte ehrlich führen und gemeinsam daraufhin arbeiten, die positiven Potenziale zu erschliessen. Gleichzeitig müssen wir uns auch bewusst sein, dass das alles eine gewisse Zeit brauchen wird. Sie und ich werden die flächige Marktdurchdringung einer intelligenten Mobilität erst am Stock erleben. Aber dafür viel mobiler sein als die alten Leute heute, weil uns das autonome Spitex-Wägeli überall herumfährt.

 

 

 

 

 

Jürg RöthlisbergerDirektor ASTRA

Jürg Röthlisberger liess sich nach einer Lehre als Tiefbauzeichner zum Bauingenieur HTL und ETH ausbilden. Danach arbeitete er für eine Baufirma und ein Ingenieur-Unternehmen. 1997 trat er in den Bundesdienst, seit März 2015 ist er Direktor des Bundesamts für Strassen (ASTRA).