Wie machen wir unser Bildungssystem für die Digitalisierung fit? Welche Basisfähigkeiten muss die Schule neben Lesen, Schreiben und Rechnen heute vermitteln und auf welche digitalen Hilfsmittel soll sie dafür setzen? Ein Gespräch mit Abraham Bernstein, Professor am Institut für Informatik an der Universität Zürich, für den vor allem eines klar ist: Wir brauchen weit mehr Informatikerinnen und Informatiker, als wir heute ausbilden. Aber nicht nur: Mit Daten umgehen können, müssen in einer digitalen Gesellschaft alle.
asut: Stellvertretend für viele Politiker hat die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel unlängst erklärt: «Ich glaube, dass die Fähigkeit zum Programmieren eine der Basisfähigkeiten von jungen Menschen wird, neben Lesen, Schreiben, Rechnen.» Teilen Sie diese Ansicht?
Abraham Bernstein: Die Frage, die wir uns stellen müssen ist eher, über welche Fähigkeiten Arbeitskräfte und Bevölkerung in der Informationsgesellschaft verfügen müssen. Absolut zentral, und zwar insbesondere für unsere wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, wäre hier ein Fach, das nicht nur die Sprache des Computers vermittelt, sondern auch sein Denken: Die Logik, mit der er an ein Problem herangeht, es in Teilschritte zerlegt und wie dann ein Problemlösungsschritt den nächsten anstösst. Sich vorstellen zu können, wie solche Flüsse ablaufen, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um die Digitalisierung meistern zu können. In einem solchen Fach wäre die Programmierung zwar sicher ein wichtiger Baustein. Aber eben nur einer von mehreren. Weitaus wichtiger als programmieren zu können, ist es meiner Meinung nach, die Bevölkerung zu befähigen, mit Daten umzugehen. Das wird in einer datengetriebenen Wirtschaft jeder können müssen. Insofern stimme ich der Bundeskanzlerin durchaus zu, wünsche mir aber insbesondere auch ein Daten- und Statistikverständnis als Kernelement der Bildung von morgen.
Für Deutschlands «Internet-Erklärer» Sascha Lobo ist der Ruf nach Programmierunterricht in der Schule stellvertretend für die Hoffnung, unsere Kinder möchten dadurch die gewaltige Gesellschaftsaufgabe Digitalisierung besser meistern als wir. Ein aus der Überforderung geborener Fehlschluss?
Nein, wir brauchen mehr Informatiker. Oder, noch pointierter, wir brauchen mehr Informatikerinnen. Laut Bundesamt für Statistik haben wir in der Schweiz pro Jahr rund 1500 Abschlüsse in Informatik. Diese Zahl umfasst den gesamten Tertiärbereich, vom Bachelor über die Fachhochschulen bis hin zum Master und zum Doktortitel. Selbst wenn wir diese Zahl verdreifachen würden, wäre das noch immer nur ein Bruchteil der Gesamtbevölkerung – damit allein kann die Schweiz die digitale Revolution nicht stemmen. In einer Welt der sprunghaft anwachsenden Daten müssen auch alle anderen mit Daten umgehen können, Daten atmen, essen, in Daten denken. Neben den rund 1500 Informatikabschlüsse werden jährlich auch etwa 46'000 andere Abschlüsse vergeben. Wir müssen uns also überlegen, was die digitale Revolution für Medizinerinnen und Medizinern bedeutet, was für Juristinnen und Juristen, Betriebswirtschaftlerinnen und Betriebswirtschaftler, Psychologinnen und Psychologen. Sie alle müssen wissen, wie man Daten interpretiert, verarbeitet, veredelt. Sie müssen Statistik verstehen und Wahrscheinlichkeitswerte zuordnen können.
Was bedeutet das für unser Bildungssystem?
Der Unterricht hat sich lange damit begnügt, digitale Medien in den Unterricht zu integrieren oder reines Anwenderwissen zu üben – mit unbefriedigenden Resultaten. Ich fordere eine Ausbildung, die zur «Digital Literacy» befähigt, zum kompetenten Umgang mit der Digitalisierung und ihren gesellschaftlichen und regulatorischen Auswirkungen, mit Innovationsmethoden und neuen Arten der Zusammenarbeit, und zwar auf allen Stufen und in allen Fächern. Zentral sind dabei vier Säulen. Die erste ist die bereits erwähnte Befähigung zum Umgang mit Daten. Die zweite das Verständnis dafür, dass Informationssysteme soziotechnische Systeme sind, die mit der Gesellschaft in Wechselwirkung stehen. An dritter Stelle folgt das «Computational Thinking», das heisst die Fähigkeit, Abläufe und Prozesse des Programmierens zu verstehen und zur Problemlösung auch auf andere Bereiche anzuwenden. Hier ist die Programmierung ein wichtiger Baustein. Und schliesslich gilt es, die gesellschaftlichen, ethischen und wirtschaftlichen Implikationen der Digitalisierung zu verstehen und die gesetzlichen Rahmenbedingungen, beispielsweise im Bereich von Datenschutz und Privacy, entsprechend auszugestalten.
Geht der Lehrplan 21 diesbezüglich in die gute Richtung?
Unter dem Thema «Medien und Informatik» bündelt der Lehrplan 21 solche Überlegungen durchaus. Doch betrifft er natürlich nur die Volksschule – um konkurrenzfähig zu bleiben, muss das Schweizer Bildungssystem diese Fähigkeiten auch auf Ebene von Mittelschulen, Lehre, Berufsmaturität, Fachhochschulen und Universitäten verankern. Dazu, und das ist eines der dringendsten Probleme, kommen die rund zwei Drittel der Bevölkerung, die heute bereits in der Berufswelt stehen. Es muss gelingen, auch sie für den Wandel zu befähigen, sonst schüren wir bereits bestehende diffuse Ängste vor der Digitalisierung weiter. Und schliesslich müssen wir sicherstellen, dass die Lehrenden auf allen Stufen in der Aus- und Weiterbildung die nötigen Kompetenzen erhalten.
Und wie verändert die Digitalisierung die Hochschulen?
Forschung und Lehre werden immer stärker digitalisiert. Dadurch verändert sich nicht nur die Arbeitsweise, es tauchen, insbesondere in den sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächern, auch ganz neue Fragen auf. Datengestützte Wissenschaft sagt sehr viel über eine Gesellschaft aus: In der Geschichte etwa lässt die Analyse der Daten, die in einer bestimmten Epoche nicht gesammelt wurden, vielfältige Schlüsse zu.
Gleichzeitig stellt sich den Universitäten natürlich die Frage, wieweit die Anforderungen der Digitalisierung eine Anpassung der Lehrpläne bedingt – und auf Kosten welcher Fächer das gehen soll. Welche Fähigkeiten werden unsere Studentinnen und Studenten in 10 Jahren noch benötigen? Was wird ein Mediziner können müssen, wenn auch Kollege Computer treffsichere Diagnosen stellen kann? Was die Juristin, wenn die künstliche Intelligenz viele ihrer Aufgaben auch, oder teilweise vielleicht sogar besser erfüllen kann? An der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich versuchen wir die Studienanfänger für die Fragen, die sich hier im Bereich der Informationsökonomie für Firmen stellen werden, zu sensibilisieren.
2013 machten Sie als einer der ersten Mooc-Anbieter in der Deutschschweiz Schlagzeilen («Der Professor, der sich zurückspulen lässt»). Revolutioniert die Digitalisierung auch den Unterricht?
Digitale Hilfsmittel haben ein Riesenpotenzial, die Lehre zu verbessern. Eine traditionelle Vorlesung mit 800 Leuten, von denen die Hälfte erst noch in einem anderen Hörsaal sitzt und nur einer Videoübertragung beiwohnt, ist ja eigentlich ein Witz. Diskussionen über den Stoff kann man so vergessen. Der offene Online-Unterricht ist ein Weg, um mithilfe der Technologie mit den Studentinnen und Studenten wieder interagieren zu können. Die Vorlesung wird aufgezeichnet, der Frontalunterricht findet zu Hause statt und im Hörsaal werden dafür Übungen gemacht und besprochen. «Flipped Classroom», das umgedrehte Klassenzimmer, nennt sich das.
Ist der Lernerfolg grösser?
Wahrscheinlich schon. Aber solche Konzepte sind auch ungeheuer arbeitsintensiv. Meine Vorlesung zu «verMOOCen», war für mich und meine Assistentinnen und Assistenten ein Riesenaufwand. Für die Studierenden, die vorher auch passiv im Hörsaal sitzen konnten, ist das Format ebenfalls anspruchsvoller.
Heute sind nur rund zehn Prozent der Informatikstudierenden an der ETH und der Universität Zürich Frauen. Warum gibt es so wenig Informatikerinnen?
Bei uns an der UZH liegt der Frauenanteil eher bei 20 Prozent, aber auch das ist natürlich noch zu tief. Ich fürchte, wir verlieren die jungen Frauen bereits in der Primarschule, weil dort Dinge wie Kopfrechnen für Mathematik verkauft werden, die unser Fach verunglimpfen. Dazu kommt, dass die Schule keine realistische Vorstellung davon vermittelt, was Informatiker eigentlich tun. Noch immer glauben viele, Computerwissenschaft sei ein unverständliches Fach für lichtscheue Nerds. Die Erfahrung zeigt auch, dass gemischte Klassen in den naturwissenschaftlichen Fächern nicht das Richtige sind: In Mädchengymnasien etwa ist das Interesse für Informatik viel höher. Das alles führt dazu, dass uns die Mädchen unterwegs abhandenkommen. Es muss uns gelingen, diese «leaky Pipeline» zu flicken. Wir können es uns auf die Länge nicht leisten, dass ausschliesslich Männer die soziotechnischen Systeme bauen, die unsere Realität bestimmen. Denn es ist wissenschaftlich klar erwiesen, dass gemischte Teams intelligenter agieren und bessere Lösungen entwickeln.