asut-Bulletin
Shaping The Digital Future - Swiss Telecommunication Summit / 42. asut-Seminar
Ausgabe
04/2016
Golden Age = grün + digital

Die Digitalisierung könnte der Menschheit ein neues goldenes Zeitalter bescheren, sagt die Wirtschafts- und Innovationsforscherin Carlota Perez. Von alleine geschehe das allerdings nicht, und was zu tun wäre, könne uns die Geschichte lehren.

(cdh) Die industrielle Revolution in England ab 1771 mit ihren Maschinen, Fabriken und Kanälen. Dann, nach 1829, das Zeitalter von Kohle Dampfmaschine und Eisenbahn, auf das, um 1875, die hohe Zeit von Schwerindustrie und Ingenieurkunst folgte, von waghalsigen Stahlkonstruktionen, Brücken, transkontinentalen Eisenbahnlinien, telegraphischen Tiefseekabeln und dem Dampfschiff, das die Distanz zwischen der nördlichen und der südlichen Hemisphäre halbierte und die ersten globalen Märkte ermöglichte. 1908 dann die Epoche von Öl, Automobil, Luftfahrt, Petrochemie und Massenproduktion. Und schliesslich das heutige Zeitalter der Informationstechnologie, das 1971 mit der Vorstellung des ersten Mikroprozessors begann. Das sind fünf technologische Revolutionen in 250 Jahren. Im fünften dieser technologischen Paradigmenwechsel stehen wir mitten drin, der sechste und nächste werde, so vermutet Carlota Perez, eine Konvergenz von Bio- und Nanotechnologie, Bioelektronik und neuen Werkstoffen sein. 

Doch zurück zu den Lehren der Geschichte. Sie belegen, dass auf jede technologische Revolution eine grosse Blase folgt. Perez führt das darauf zurück, dass in der Installationsphase massive Geldmittel und extrem freier Marktinvidualismus nötig seien, um einer neuen Technologie gegen den Widerstand der etablierten Technologien zum Durchbruch zu verhelfen. Das führt unweigerlich zu einem gefährlichen Überschwang, zu Überhitzung, eigennützigem Kasinokapitalismus und zur Umverteilung des Wohlstands zugunsten der Kapitalbesitzer. 

Wenn die Blase dann platzt und der Blasenwohlstand verpufft, folgen Kollaps und Rezession. Und aus deren Trümmern wiederum kann, immer dann, wenn es dem Staat gelingt, das System neu auszubalancieren, die Märkte zu regulieren und der Gesellschaft gemeinschaftliche Ziele vorzugeben, ein goldenes Zeitalter folgen. So wie der viktorianische Boom nach der Eisenbahnpanik von 1847, die Belle Epoque in Europa und die "Progressive Era" in den USA nach der  Baring Krise oder der Nachkriegsboom der 1950er- und 60er-Jahre. Das alles sind Beispiele für die zweite Phase, die auf die Krise folgt, die Diffusionsphase, in welcher der Finanzkapitalismus durch einen Produktionskapitalismus abgelöst wird. Der Staat investiert in die neue Technologie, sieht zu, dass ihr Nutzen der gesamten Wirtschaft und breiten Bevölkerungsschichten zugutekommt, Wohlstand schafft und soziale Innovation ermöglicht. Schliesslich kommt es zu einer gewissen Sättigung. Die inzwischen etablierte Technologie bringt nicht mehr viele Neues hervor und bereitet damit den Nährboden vor für die Installation des nächsten technologischen Paradigmas.

Goldenes Zeitalter am Horizont

 

Und heute? Heute stehen wir, laut Carlota Perez, ungefähr in der Mitte des ICT-Paradigmas. Die erste Halbzeit ist vorbei, wie wir die zweite gestalten, hängt nun von uns ab. Wir sind am rezessiven Wendepunkt angelangt, die Dotcom-Blase und die Finanzblase sind bereits geplatzt, eine dritte Krise liegt möglicherweise noch vor uns. Die Chance, dass darauf das goldene Zeitalter der globalen, nachhaltigen Wissensgesellschaft folgt, ist intakt.

Aber goldene Zeitalter, mahnt Perez, kommen eben nicht von selbst. Sie müssen durch einen Staat begünstigt werden, der ein Umfeld schafft für die Modernisierung der gesamten Industrie und für gesellschaftliche Stabilität. So stark sich der Staat während der Installationsphase zurückhalten soll, so stark ist er in dieser zweiten Phase gefragt. Nun braucht es  Investitionen in die Infrastrukturen, die Umlenkung von Geldströmen, intelligente Aufsicht, soziale und ökonomische Sicherheitsnetze. Der Markt allein kann das Umfeld nicht verändern. Und Sparmassnahmen kommen für Carlota Perez in dieser Situation einem Selbstmord gleich. Stattdessen plädiert sie für eine klare Politik der leitenden Hand. 

Jedes goldene Zeitalter habe sein eigenes Idealbild des erstrebenswerten Lebenstils gehabt. Im Zeitalter der Massenproduktion in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg war es der Traum des eigenen Hauses in der Vorstadt, der für die gesamte Arbeiterklasse erschwinglich wurde. Im Internetzeitalter könnte es das Streben nach einem nachhaltigen, den persönlichen Bedürfnissen angepassten Lebensentwurf sein – für Perez ein typisch europäischer "Way of Life", der digitale Technologien und Umweltbewusstein kombiniere.

Wie der Staat durch eine gezielte Veränderung des Umfelds ein goldenes Zeitalter begünstigen kann, zeigt noch einmal ein Blick zurück. Der goldene Nachkriegsboom, der grösste Boom der letzten Jahrzehnte, wurde von Staat durch Interventionen und institutionelle Anpassungen massiv gefördert: Marshallplan für den Wiederaufbau, billiges Land und billige Hypotheken für die Vorstadtidylle, von der Wirtschaft mitgetragene Steuererhöhungen für die Bereitstellung öffentlicher Güter und damit zur Wohlstandsumverteilung, Massenproduktion (u.a. Unterhaltungselektronik) und Konsumentenkredit, Ausbau des öffentlichen Beschaffungswesens zur Krisenbekämpfung und Arbeitsbeschaffung, hohe Investitionen in Forschung und Entwicklung und die Förderung von technischer Innovation und Produktion als Gradmesser der gesellschaftlichen Entwicklung im Kalten Krieg.   

Etwas ähnliches sei seit der Finanzkrise 2008 nicht in Sicht. Carlota Perez sieht darin eine ungeheure verpasste Chance: Denn eine ICT-gestützte, nachhaltige Welt, in der anstelle der Massenproduktion und Energieverschleiss der effiziente und nachhaltige Einsatz der Ressourcen tritt, wo der Motor von Wirtschaft und Wachstum  nicht mit "schmutzigen" Erdöl, sondern mit "sauberen Daten" gefüttert wird, und wo smarte immaterielle Dienstleistungen den umweltfeindlichen Massenkonsum ablösen, eine solche grüne und sozial gerechtere neue Welt sei möglich. Aber sie müsse von Staat, Wirtschaft, Finanzwelt und Gesellschaft gewollt werden. 

 

Carlota PerezLondon School of Economics

Carlota Perez ist Wirtschaftswissenschaftlerin und "Centennial Professor" an der London School of Economics, sie doziert in Sussex und Tallinn Ihr Spezialgebiet sind die Auswirkungen des technischen Fortschritts auf die Gesellschaft. Die Venezolanerin war Beraterin verschiedener südamerikanischer Regierungen und der Weltbank, der EU und der OECD sowie von verschiedenen Unternehmen im Privatsektor. Ihr Buch "Technological Revolutions and Financial Capital: The Dynamics of Bubbles and Golden Ages" gilt als moderner Klassiker der Wirtschaftsliteratur.

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