Was bedeutet die cyber-physische Welt für die Ausbildung? Lino Guzzella gab Einblick in die aktuelle Forschung der ETH und erläuterte deren eminente Bedeutung für die digitale Revolution. Und weil das Publikum in einer Umfrage zwar die Wichtigkeit der Bildung anerkannt, die Forschung aber für wenig relevant erklärt hatte, illustrierte der Präsident der ETH Zürich diesen zentralen Punkt, bis er sicher sein konnte, alle im Saal davon überzeugt zu haben.
(cdh) – Es gab eine Zeit, da waren Nokia und Ericsson beide extrem stark. Heute dominiert nur noch eines der beiden Unternehmen aus dem Norden – und zwar dasjenige, das auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten nie aufgehört hat, in die Forschung zu investieren. Bildung und Forschung, betonte ETH-Präsident Guzzella mit Nachdruck, seien zwei Seiten derselben Medaille: “Nur wenn wir beide miteinander kombinieren, haben wir eine Chance, unseren Wohlstand auch weiterhin zu halten." Das gelte im Zeitalter der Digitalisierung ganz besonders.
Digital kommt vom lateinischen "digitus", dem Finger, den man zum Zählen braucht. Digital meint heute die automatisierte Verarbeitung von Daten. Guzzella zeigte, dass das an und für sich nichts Neues ist: Digital war schon der lochkartengesteuerte Jaquard-Webstuhl im Jahr 1805. Zentral ist für Guzzella denn auch nicht die Digitalisierung an sich, sondern die Vernetzung, das heisst die Verbindung von sehr vielen Datenerfassungspunkten mit sehr leistungsfähigen Datenverabeitungsgeräten: "An dieser Schnittstelle, wo digitale und physische Welt zusammentreffen, ergeben sich neue Geschäftsmodelle", erklärte Guzzella. Dazu müssten die Daten aggregiert und analysiert, das heisst in Information umgewandelt werden: "Denn wenn Daten, wie man oft sagt, das neue Erdöl sind, dann wird daraus erst dann Benzin, wenn wir sie einem Raffinationsprozess unterziehen."
Wo steht die Schweiz in Sachen Digitalisierung? Im Gegensatz zu verschiedenen seiner Vorrednerinnen und Vorredner findet Guzzella, es gebe keinen Anlass, vor den USA Achtungsstellung einzunehmen: "Wir haben viele kreative Köpfe in diesem Land." Das zeige sich nicht zuletzt darin, dass allein an der ETH Zürich seit 1996 330 Spin-off-Unternehmen gegründet worden sind. Was ihn allerdings erstaune, meinte Guzzella, sei die Zweiteilung der Schweizer Wirtschaft. Es gebe Schweizer Unternehmen, die schon seit Langem im Wettbewerb mit der Welt gestanden hätten, modern und fit seien. Andere hingegen seien eher binnenmarktorientiert geblieben und nicht besonders modern – ein typisches Beispiel dafür sei die Bauwirtschaft. Hier setzt die ETH denn auch einen ihrer Schwerpunkte mit einer Professur für die digitale Fabrikation. Dort geht es darum, die Lücke zwischen den digitalen Technologien und dem physischen Konstruktionsprozess zu schliessen. Warum? Die Vorteile des digitalen Bauens seien evident: ressourceneffizient, ökologisch, billiger und erst noch ästhetisch überzeugend.
Ein weiteres wichtiges Thema für die ETH Zürich ist die Roboterforschung. Dass sie hier ganz vorne mit dabei ist, attestieren ihr auch andere, so zum Beispiel Chris Anderson, CEO von 3D Robotics, für den die Zürcher Hochschule "eine der besten zwei bis drei Universitäten der Welt" ist. Industrieroboter, Serviceroboter, Drohnen: Roboter würden immer wichtiger, meint Guzzella, interaktiver und fähig, mit Menschen zusammenzuarbeiten ohne sie zu gefährden. Vor kooperierenden Robotern braucht sich nach Ansicht des ETH-Präsidenten übrigens niemand zu fürchten. Statt als "Arbeitsstellenvernichter" seien sie vielmehr als willkommener Kollege des Menschen anzusehen: "Kein Grund zur Panik, nur ein Grund für Bildung und Forschung."
Zentral ist für die Zürcher Hochschule auch die Thematik der Sicherheit und der Privacy. Bei der Digitalisierung gebe es eben auch Missbrauchspotenzial, Risiken und die Gefahr, sich blenden und auf falsche Pisten locken zu lassen, erklärte Guzzella. Aktiv sind hier insbesondere das Zurich Information Security & Privacy Center (ZISC) und das 2015 lancierte "Open Lab", in dem ETH-Professoren und Firmenvertreter gemeinsam konkrete Projekte bearbeiten.
Die Digitalisierung meistern: Für Lino Guzzella bedeutet das auch, dass sich eine Gesellschaft damit auseinandersetzt, was sie wirklich voranbringt. Und das könne sie nur, wenn sie über intelligente und gutausgebildete Köpfe verfüge. An denen fehle es nicht in der Schweiz mit ihrem ausgezeichneten und auch im Ausland viel beachteten komplementären Bildungssystem von Hochschulen, Fachhochschulen und Berufsbildung.
Ein bisschen Kritik an diesem hochgelobten System schimmerte dann doch noch durch: Die Früchte der Digitalisierung würden uns nicht einfach so in den Schoss fallen, mahnte Guzzella, ihre Grundlage seien solide Kenntnisse in Mathematik und Physik und deshalb müsse bereits im Lehrplan der Grundschulen das algorithmische Denken verankert und dafür gesorgt werden, dass die Schüler Programme schreiben lernten: "Informatikunterricht bedeutet nicht, eine Power-Point-Präsentation erstellen zu können oder sich der Gefahren des Internets bewusst zu sein."
Was also braucht die Schweiz in den Augen des ETH-Präsidenten, um die Digitalisierung zu meistern? Sie braucht kluge Köpfe, die kritisch denken können und Unterstützung für die richtigen Ideen. Sie braucht ein motivierendes Ökosystem von Bildungs- und Forschungsinstitutionen sowie innovativen Unternehmen. Sie braucht verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln, nicht zu viel Angst vor dem Scheitern, ein bisschen mehr Mut und Frechheit – und natürlich exzellente ETH-Forschung.