asut: Der «Tages-Anzeiger» zitiert Sie mit einem schönen Satz: «Die heutige Schweiz hat ihre Wurzeln in der Maschinenfabrik, nicht im Bauerndorf.» Ist das so?
Hans-Peter Bärtschi: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben Spinnereien und Webereien in der Schweiz zunehmend die Landwirtschaft verdrängt. Daraus ist in der Folge die grosse Schweizer Maschinenindustrie gewachsen, die Weltruhm erlangte.
Wie standen die Menschen damals diesem Wandel gegenüber?
Nicht nur positiv. 1832 kam es im zürcherischen Uster zum berühmten Maschinensturm: Aufgebrachte Weber, die ihren Unterhalt als Heimarbeiter bestritten hatten, steckten die Fabrik Corrodi & Pfister in Brand. Doch das war eine Randerscheinung und der einzige Schweizer Maschinensturm. Denn mit dem Übergang vom Getreideanbau zur Milch- und Viehwirtschaft – Grund waren die billigeren Getreideimporte – gingen in der Landwirtschaft viele Arbeitsplätze verloren: Da war man froh, in der Fabrik einen Zustupf verdienen zu können.
Es folgte die «Hohe Zeit der Schweizer Maschinenindustrie».
Die Landesausstellungen von 1883, 1914 und 1939 inszenierten die Bedeutung der Industrie bereits ganz bewusst. Die Vermittlung eines gewissen Fortschrittsglaubens diente auch als Klammer des nationalen Zusammenhalts. Ihren beachtlichen Aufschwung verdankte die Schweizer Maschinenindustrie nicht nur dem grossen Fachwissen in der Präzisionsmechanik, sondern natürlich auch dem Umstand, dass ihr Produktionsapparat im Zweiten Weltkrieg intakt blieb. Erst nach 1970 war die ausländische Konkurrenz wieder voll da. Die Schweizer Wirtschaft reagierte mit einem Strukturwandel von der Produktionswirtschaft zur Finanzwirtschaft und zum Ausbau des Dienstleistungssektors. Zahlreiche traditionelle Industriebetriebe wurden ausverkauft, Arbeitsplätze ins billigere Ausland verlegt. Die heute noch tätigen Schweizer Industrien sind meist in der Hand ausländischer Finanzkonzerne.
Hat das dem Stolz auf die Schweizer Industrie und damit vielleicht auch einem gewissen Fortschrittsglauben einen Dämpfer versetzt?
Früher waren die grossen Schweizer Industriebetriebe Familienbetriebe. Da sorgte der Patron sich um das Wohl des Geschäfts und der Belegschaft und verzichtete in mageren Jahren auch etwa darauf, Dividenden auszuzahlen. Da blieb der Betrieb in der Hand der Familie und zu gegebener Zeit übernahm ein Sohn die Leitung. Die Arbeiter waren stolz, Teil des Betriebs zu sein und auch hier blieb eine Stelle oft vom Grossvater bis zum Enkel in derselben Sippe. Das alles ist Vergangenheit. Wertschöpfungsketten sind heute viel weniger fassbar geworden. Und es ist durchaus möglich, dass sich, je stärker die Kette von der Forschung zur Umsetzung und zum Vertrieb zerstückelt wird, mit dem Bewusstsein der Zusammenhänge auch der Stolz auf das Ganze immer mehr verliert.
Sie haben sich jahrelang mit Herz und Seele dafür eingesetzt, das industrielle Zeitalter der Schweiz aufzuarbeiten und seine Zeugen zu erhalten. Hat sich der Kampf gelohnt?
Er hat jedenfalls vieles bewirkt. Am liebsten sind mir die Projekte, wo es gelang, nicht nur historische Industriegebäude, sondern auch Arbeitsplätze zu erhalten. So etwa bei der 125 Jahre alten «Nagli» in Winterthur, wo fünf Maschinen aus der Frühzeit der Industrialisierung noch heute Nägel mit Köpfen hämmert. Und die Schweizer Ingenieurkultur wird in gewissen Bereichen ja durchaus noch gepflegt, zum Beispiel am Technikum Winterthur oder an den beiden ETHs in Zürich und Lausanne.