Abendlicher Stauverkehr: Mit Mobility Pricing soll der Verkehr besser über den Tag verteilt werden. (Bild: Unsplash)
Die Corona-Krise könnte dem Preissystem einen Schub verleihen. Ein Verkehrsexperte rät zum Experimentieren.
von Stefan Hänen und Gregor Poletti
Der Lockdown hatte auch sein Gutes: Kein Pendlerstress in überfüllten Zügen, keine nervige Warterei im Stau und keine aufreibenden Businessflüge. Auch die Umwelt konnte kurzfristig von dieser Entlastung profitieren. «Wir haben positive Erfahrungen mit alternativen Mobilitätsformen gemacht, etwa dem Online-Meeting statt der Flugreise oder der Velofahrt statt der ÖV-Fahrt», bilanziert Thomas Sauter-Servaes, Mobilitätsforscher an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Die Corona-Krise könne die Verkehrswende befeuern, sei aber kein Selbstläufer.
Deshalb müsse man nun handeln: «Jetzt öffnet sich ein Möglichkeitsfenster für die Verkehrsanbieter, das diese dringend nutzen sollten, bevor alle wieder in die alten Verhaltensroutinen verfallen.» Man sollte die Kombination von Homeoffice und ÖV so bequem und preislich attraktiv machen wie möglich. Sauter-Servaes hat einen konkreten Vorschlag: «Warum nicht jetzt experimentieren mit Monatstickets, die beispielsweise an drei Werktagen erst ab 12 Uhr gültig sind?» Damit lasse sich die Akzeptanz für ein Mobility-Pricing erhöhen.
Auch bei den SBB macht man sich Gedanken darüber, wie in Zukunft der ÖV Homeoffice fördern kann. «Die letzten Wochen haben gezeigt, dass eine Mischung aus Homeoffice und normalem Büroalltag sehr gut möglich ist», sagt SBB-Chef Vincent Ducrot. Die Überlegungen seien aber noch ganz am Anfang. «Wichtig ist, dass wir nicht noch mehr Komplexität in das Tarifsystem des öffentlichen Verkehrs bringen», sagt Ducrot.
Luzern geht in die Offensive
Die Akzeptanz für Mobility-Pricing ist höher als auch schon, zumindest für einen Versuch: Vor wenigen Jahren hatte der Bund noch vergeblich eine Testregion gesucht. Das Interesse ist inzwischen gewachsen, seit der Bund in einer Wirkungsanalyse – mit dem Kanton Zug als theoretischer Spielwiese – vor kurzem dargelegt hat, dass Mobility-Pricing funktioniere und die Verkehrsnachfrage in den Spitzenzeiten drossle, bis zu 12 Prozent im Autoverkehr und bis zu 9 Prozent im ÖV. Auf eine aktuelle Umfrage des Bundes bei Kantonen, Städten und Gemeinden haben mehrere Interesse bekundet.
«Für die Stadt Luzern würde dies die Möglichkeit eröffnen, den Verkehr in eine ökologische Richtung zu lenken», sagt Adrian Borgula, Umweltdirektor der Zentralschweizer Metropole. Deshalb habe Luzern gegenüber dem Bund Interesse an einem solchen Pilotprojekt angemeldet. Bedingung ist für Borgula, dass ein solcher Versuch gemeinsam mit der Agglomeration durchgeführt werden müsste. Auch in anderen Regionen der Schweiz findet das Projekt des Bundes Anklang.
Zum Beispiel in Basel: In einem Vorstoss fordern die Grünliberalen mit Unterstützung von Grünen, SPlern und Freisinnigen, dass der Kanton Basel-Stadt ein Pilotprojekt lanciert. In Bern ist der Regierungsrat bereit, eine Teilnahme an einem Pilotversuch zu prüfen. Die Kantonsregierung wolle sich dem Vorhaben nicht verschliessen, habe aber nach wie vor eine gewisse Skepsis gegenüber dem Vorhaben.
In Zürich überwiegen die Bedenken: «Der Kanton sieht kein Pilotprojekt vor», sagt Wilfried Anreiter, Leiter Gesamtverkehrsplanung der Zürcher Volkswirtschaftsdirektion, «obwohl Mobility-Pricing zweifellos ein interessanter Ansatz ist.» Der Grossraum Zürich sei zu komplex, um eine solch anspruchsvolle Verkehrslenkung heute zu testen.
Angst vor reinem Roadpricing
Die Aussicht auf einen Pilotversuch ruft im Parlament verschiedene Reaktionen hervor. Nationalrat Martin Candinas (CVP) sagt, er stehe Mobility Pricing nach wie vor sehr kritisch gegenüber: «Es kann nicht sein, dass sämtliche Abgaben für die Verkehrsinfrastrukturen in Zukunft leistungsabhängig sind.» Dagegen werde er sich wehren, zum Wohle der Berggebiete und jener Menschen und Familien, die in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen lebten. Nationalrat Christian Wasserfallen (FDP) befürchtet gar, «dass man die Gelegenheit missbraucht und einseitig ein Roadpricing einführt».
Auf links-grüner Seite gibt es in der Tat solche Absichten. Nationalrat Jon Pult etwa würde es begrüssen, wenn Luzern ein Pilotprojekt in Angriff nähme. «Wir brauchen Praxistests, um zu sehen, ob ein umfassendes Mobility Pricing wirklich funktioniert.» Pult macht aber klar, dass ein reines Roadpricing «insgesamt wohl die bessere Variante darstellt – in sozialer, verkehrspolitischer und klimapolitischer Hinsicht».
Strittig ist weiter, was ein Mobility Pricing letztlich bezwecken soll. Den Verkehr stärker übers Portemonnaie steuern oder aber Infrastrukturen finanzieren? Beide Ziele widersprächen sich, sagt FDP-Politiker Wasserfallen. «Wenn die Lenkung erfolgreich ist, fehlt das Geld.» Ziel müsse es aber sein, ausreichend finanzielle Mittel für neue Infrastrukturen und auch rechtzeitig für den Unterhalt bereitstellen zu können. Es brauche eher eine Lösung für die sinkenden Einnahmen aus den Mineralölsteuern – eine Folge davon, dass die Autos effizienter werden. Wasserfallen fordert deshalb, Elektro- oder Wasserstoffautos müssten sich stärker an den Kosten der Infrastruktur beteiligen.
Langer Zeithorizont
Wie geht es jetzt weiter? Weil die gesetzlichen Grundlagen für die Durchführung von Pilotprojekten für Mobility Pricing fehlen, muss das Umweltdepartement bis Ende Jahr eine entsprechende Vernehmlassungsvorlage unterbreiten.
Zudem wurden das UVEK und das Finanzdepartement beauftragt, ein Konzept zur Sicherung der langfristigen Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur zu erarbeiten. Dabei sollen bestehende Steuern und Abgaben durch eine leistungsabhängige Abgabe abgelöst werden. Aber bis es ein flächendeckendes neues System der Verkehrsbesteuerung gibt, wird noch einige Zeit verstreichen: Der Bund rechnet mit einem Zeithorizont von 15 Jahren.
So funktioniert Mobility Pricing
Mobility-Pricing ist im ÖV teilweise schon Realität: 2018 verkauften die SBB über fünf Millionen Sparbillette, an Spitzentagen rund 30'000. Die Sparbillette haben eine Lenkungswirkung auf schwach ausgelastete Züge. Jeder vierte Kunde änderte deswegen seine Reisezeit. Anders sieht es beim Individualverkehr aus: Hier müssten neue Systeme eingeführt werden, welche die Autofahrten erfassen und je nach Zeit und Ort eine Abgabe erheben würden. Dafür gibt es unterschiedliche Möglichkeiten: etwa die Erfassung des Autos via Funk- oder Satellitenmaut. In Erwägung gezogen werden auch Geräte, die ähnlich wie bei der Leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe ins Gefährt eingebaut werden. Denkbar ist auch der Weg über eine App. Sicher ist, dass die Einführung solcher Systeme datenschutztechnisch herausfordernd ist – und wohl auch eine Volksabstimmung nach sich zöge.
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Dieser Artikel ist am 12.5.2020 im «Tages-Anzeiger» erschienen. Publikation mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.