asut-Bulletin
The new normal: Aktuelle Digitaltrends und Use Cases
Ausgabe
01/2021
Wir wissen jetzt genau, wo etwas digital funktioniert und wo nicht

Covid-19 gilt als «Stresstest für die digitale Schweiz». Ein Gespräch mit dem Zukunftsforscher (und Zukunftsoptimist) Georges T. Roos darüber, ob die Pandemie erwartete Trends beschleunigt hat. Und was die digitale Zukunft sonst noch bringt.

asut: Seit Jahren gilt die Digitalisierung als Megazukunftstrend. Hat diese Vision Corona standgehalten?

Georges T. Roos: Nicht immer. Es war bisweilen ernüchternd feststellen zu müssen, wie sehr die digitale Transformation vielerorts noch am Anfang steht. Und zwar weniger bei der Digitalisierung der Kommunikation als bei der Digitalisierung von Prozessen: Software-Lösungen, die im Stande gewesen wären, einen verlässlichen Überblick über die Erkrankungen oder die Impfungen zu geben, haben wir beispielsweise keine gesehen.

Neue Krankheitsfälle sind teilweise offenbar per Fax übermittelt oder sogar abgewogen worden...

Genau: Viele Arztpraxen in der Schweiz arbeiten noch mit Faxgeräten und handgeschriebenen Notizen. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für den Austausch von Gesundheitsdaten bestehen zwar, aber bei den gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen hapert es gewaltig. Das ist einerseits verständlich: Es gibt kaum heiklere Daten als Gesundheitsdaten. Falsch genutzt können sie zu Diskriminierung und Entsolidarisierung führen. Der Umgang mit diesen Daten muss sauber geregelt sein, damit niemand Schaden nimmt. Gleichzeitig hat Covid-19 uns bewusst gemacht, dass sich eine Pandemie ohne bessere Datenlage, ohne das Sammeln und sinnvolle Auswerten von grossen Mengen von Gesundheitsdaten, nicht bewältigen lässt, und dass auch der wissenschaftlich-medizinische Fortschritt diese Daten für bessere Diagnosen, Therapien und Medikamente dringend braucht.

Wird das der Digitalisierung im Gesundheitsbereich einen Schub verleihen?

Ich denke schon, dass verschiedenen Akteuren im Gesundheitssystem jetzt klar wird, dass ihr Widerstand gegen die Digitalisierung unverantwortlich ist. Zumindest werden gewisse Dinge nun diskutiert, wie beispielsweise ein elektronischer Impfausweis. Das wäre ein Anfang. Mir schwebt vor – immer vorausgesetzt, dass der Schutz meiner Daten gewährleistet ist und mir aus ihrer Nutzung kein Schaden entsteht –, dass es einen zentralen Ort gibt, wo alle meine Gesundheitsdaten vorliegen: jeder Befund, jedes Röntgenbild, das je gemacht wurde. Das kann die Behandlungsqualität nur verbessern, insbesondere wenn in naher Zukunft auch noch die Daten dazu kommen, die verschiedene Gesundheits-Apps über meine Gesundheitsparameter sammeln, und darin mithilfe von künstlicher Intelligenz Muster erkannt und ausgewertet werden können. Da sehe ich ein enormes Potenzial für eine personalisierte medizinische Behandlung und eine bessere Gesundheitsversorgung.

Gibt es weitere Bereiche, in denen die Pandemie dazu beiträgt, dass digitale Werkzeuge anders genutzt und digitale Potenziale besser ausgeschöpft werden?

Sie hat sicher die Voraussetzungen für Home-Office und Remote Work, das Arbeiten von überall aus, sehr breit verbessert. Einerseits in Bezug auf das technische Equipment, wo viele Betriebe nun nachgezogen und aufgerüstet haben. Aber auch bei der operativen Handhabung haben viele enorme Fortschritte gemacht. Ein zweiter wichtiger Punkt ist, dass die meisten von uns jetzt besser wissen, wo etwas digital gut funktioniert und wo eher nicht. Ich zum Beispiel habe begonnen, Podcasts* zu produzieren und bin jetzt gerade daran einen Film zu schneiden – es gibt so viele gute Videotutorials, dass man sich das nötige neue Wissen sehr schnell aneignen kann.

*In seiner Podcast-Serie  unterhält sich Georges T. Roos mit Gästen über unterschätzte Zukünfte der nächsten 20 Jahre.

 

Haben die digitalen Formate nicht gerade im Unterricht auch ihre Grenzen gezeigt – beispielsweise, dass sie bereits bestehende Ungleichheit im Zugang zu Bildung weiter verschärfen können?

Wenn es um den Transfer von Wissen, um Wissensvermittlung geht, funktionieren die digitalen Kanäle hervorragend. Dort wirken sie auch als demokratisierendes Instrument, weil sie allen, und dies oft kostenlos, Zugang zu den besten Lehrpersonen eröffnen. Aber dort, wo es nicht um Know-how, sondern um Know-why geht, stösst Online-Lernen an seine Grenzen. Bildung ist mehr als Wissen und lernen heisst immer auch verstehen. Das ist der Punkt, wo es schwieriger wird, und zwar umso mehr, je jünger die Lernenden sind – dort wirken sich dann auch die erwähnten Ungleichheiten stärker aus. Die Interaktion in Lerngruppen oder die inspirierende Rolle einer guten Lehrperson kann Zoom nicht einfach ersetzen. Das gilt übrigens auch für Teambildung: Ein gut eingespieltes Team kann relativ gut auf Zoom wechseln. Aber wer das Pech hatte, kurz vor oder während Corona dazuzustossen, für den oder die war das sehr viel schwieriger.

Auch im Bereich der Mobilität wurde mit der Pandemie auf einen Schlag Alltag, was vorher eher Theorie war: Weniger Verkehr und Lärm in den Städten, weniger ÖV-Überlastung zu Spitzenzeiten: Welche Lehren gibt es hier aus Corona zu ziehen?

In 20 Jahren wird die Schweiz rund 10 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner haben. Die Mobilität wird also stark zunehmen und zwar selbst bei gleichbleibender Nachfrage – was nicht der Fall sein wird, denn einer der Megatrends ist die wachsende Nomadisierung. Der Ausbau der Infrastruktur kann mit dieser Zunahme nicht schnell genug, und vor allem nicht endlos mithalten. Wenn wir weiterhin mobil sein wollen, müssen wir unsere Mobilität also intelligenter organisieren. Eine Möglichkeit ist die zeitliche Entflechtung und die örtliche Flexibilisierung der Arbeit. Es macht keinen Sinn, dass alle zwischen 7 und 9 Uhr morgens und abends von 5 bis 7 unterwegs sind. Das wussten wir schon vor Corona, aber Corona hat hier nun einen ganz praktischen Lernfortschritt gebracht und gezeigt, dass viele Tätigkeiten durchaus auch von zu Hause aus erledigt werden können. Es ist zu erwarten, dass Home-Office auch nach der Krise mehr genutzt wird. Vielleicht nicht mehrere Tage pro Woche und sehr flexibel: Arbeitsbeginn zu Hause und nur dann ins Büro, wenn es wirklich Sinn macht. Selbst wenn alle auch nur einen Tag pro Woche daheim arbeiten, würde das schon sehr viel Verkehr aus dem System nehmen. Doch das allein genügt nicht.

Was kann weitere Entlastung bringen?

Smartes Verkehrsmanagement und insbesondere autonome Fahrzeuge der fünften Stufe. In 20 bis 30 Jahren werden solche Passagierzellen ohne Lenkrad technisch machbar sein. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass auf überlasteten Strassen zu Spitzenzeiten dann nur noch Fahrzeuge zugelassen werden, die sich autonom einreihen können. Das wird es erlauben, die vorhandenen Verkehrsinfrastrukturen effizienter zu nutzen. Denn Stau und Verkehrsüberlastung entstehen oft dort wo Menschen das Steuerrad in der Hand und den Fuss auf dem Gaspedal haben.

Wird diese neue, intelligentere Mobilität auch die Gestaltung der Städte und der übrigen Siedlungsräume verändern?

Autonomes Fahren im Endstadium wird enorme Auswirkung haben. Ich gehe davon aus, dass niemand mehr sein eigenes Fahrzeug haben wird. Alle Mobilitätsbedürfnisse werden smart und auf die individuellen Bedürfnisse angepasst durch gemeinschaftlich benutzte Mobilitätsdienstleistungen befriedigt: Gemeinschaftsfahrzellen, die in einem intelligenten System unterwegs sind. Dadurch wird ein Grossteil der Parkplätze und auch der Fahrbahnen überflüssig und kann umgenutzt werden. In den Metropolräumen werden die Subzentren mit leistungsstarken ÖV-Verbindungen vernetzt. Innerhalb der Subzentren wird der Langsamverkehr dominieren. Alles ist leicht zu Fuss oder mit dem Velo erreichbar. Das ist nicht nur ökologischer, sondern auch mit einem riesigen Zuwachs an Lebensqualität verbunden.

Welche weiteren digitalen Trends bringt die Zukunft?

Ein Riesenzukunftsthema ist alles, was mit künstlicher Intelligenz zu tun hat sowie mit der Automatisierung, deren nächste Stufe auch den Dienstleistungsbereich und anspruchsvolle Tätigkeiten betrifft. Weitere fantastische Möglichkeiten werden die Quantentechnologien mit sich bringen, die mit bisher unerreichter Rechenleistung beispielsweise das Maschinenlernen potenzieren oder durch ganz neue Einblicke in die Wirkung von Molekülen die Entwicklung von neuen Medikamenten und Materialien revolutionieren können. Enormes Potenzial hat zudem alles, was sich unter den Begriff Smart City subsummieren lässt. Also alles, was uns dabei hilft, Aufgaben, die der Sicherheit, dem nachhaltigen Einsatz von Ressourcen, dem Erhalt von Infrastrukturen und Bausubstanz dienen, effizienter erledigen zu können. Künstliche Intelligenz eröffnet ein riesiges Feld: Ob im Bereich der Medizin, der Auswertung von Bewegungsströmen, der Infrastrukturplanung: Überall dort, wo unsere immer stärker vernetzen Systeme und smarten Sensoren uns immer mehr Daten liefern, wird uns die KI helfen, daraus sinnvolle Informationen zu ziehen.

Und der Mensch in alledem?

Wenn Automatisierung und KI ihm repetitive Tätigkeiten abnehmen, braucht er sich nur noch um die spannenden Dinge zu kümmern. Eine Riesenchance, finde ich!

 

Gespräch aufgezeichnet von Christine D'Anna-Huber

Georges T. Roos

Georges T. Roos, in Basel geboren und in der Zentralschweiz aufgewachsen, studierte in Zürich Pädagogik, Publizistik und Psychologie. Roos beschäftigt sich seit 20 Jahren mit den strategischen Zukunftsherausforderungen für Unternehmen und Organisationen. Er ist  Gründer und Leiter des privaten Zukunfts-Think Tanks ROOS Trends & Futures sowie Gründer und Direktor der European Futurists Conference Lucerne und Mitglied des Vorstandes von swissfuture – Schweizerische Vereinigung für Zukunftsforschung.

 

Artikel teilen: Wir wissen jetzt genau, wo etwas digital funktioniert und wo nicht