(Foto: Piqsels)
Von Christine D'Anna-Huber
Es gibt Rückschläge, wie die soeben vom Schweizer Stimmvolk verworfene E-ID. Aber die neue Digitalwelt ist in unserem Alltag angekommen und, ob im privaten oder im geschäftlichen Umfeld, nicht mehr daraus wegzudenken. Und die Feuerprobe der Coronaepidemie hat sie (fast überall) mit Bestnoten bestanden: Denn oft war sie der einzige Weg, der Krise standzuhalten.
Wie ein Brennglas hat die Coronakrise die Möglichkeiten und Versprechen, die Herausforderungen und Grenzen der Digitalisierung in den Vordergrund gerückt. Und vieles in ein realistischeres Licht gestellt: Wo sind wir bereit und wo müssen wir noch einmal über die Bücher? Wo haben wir uns Illusionen gemacht, Risiken unterschätzt oder, im Gegenteil, Chancen zu wenig wahrgenommen? Und wo ist es an der Zeit, Widerstände abzubauen?
Oft ging es um grundlegende Voraussetzungen. Covid-19 hat uns nicht nur gezeigt, wie wichtig eine verlässlich funktionierende Netzinfrastruktur mit genügenden Kapazitäten ist. Die Krise hat viele Unternehmen, die sich bisher vielleicht eher theoretisch mit dem digitalen Wandel auseinandergesetzt haben, auch dazu gezwungen, technisch aufzurüsten, wie der Zukunftsforscher Georges T. Roos in unserem Interview erklärt. Denn auf einen Schlag wurde klar: Wenn die Belegschaft auch im Homeoffice funktionieren und das Geschäft digital laufen soll, wenn Geschäftsprozesse digital abgebildet und Kundinnen und Kunden digital erreichbar sein müssen, dann setzt das nicht nur neue Geschäftsmodelle und mehr Agilität voraus, sondern es müssen zuallererst ganz grundsätzliche technische Voraussetzungen erfüllt sein.
«Die Pandemie hat, nicht ganz freiwillig, grosse Veränderungen im Verhalten und der Investitionsbereitschaft von Anwenderinnen und Anwendern, in der Geschäftsabwicklung als solche und in den sozialen Interaktionen hervorgebracht», schreibt unsere Kolumnistin, die Marktforschungexpertin Martina Kurth. Unfreiwillig, gewiss, mussten wir, wenn immer möglich, zu Hause arbeiten, zu Hause lernen, berufliche, soziale und behördliche Kontakte online pflegen, Expertise online austauschen, den Hausarzt online konsultieren. Was vorher oft einfach eine praktische Möglichkeit mehr war, wurde zum unverzichtbaren Tool – oft zum einzig verfügbaren. Und oft entpuppte sich der «digitale Notnagel» als ein zukunftsfähiges Werkzeug, das wir so schnell nicht mehr aus der Hand geben werden. «Viele der neuen Gewohnheiten dürften uns erhalten bleiben», schreibt der Economist in einer Analyse und sieht, weil die Pandemie das Tempo der Adoption neuer digitaler Technologien beschleunigt habe, einen ungeheuren Produktivitätsboost voraus. Dazu passt eine Umfrage des World Economic Forum, in der 80 Prozent der (weltweit) befragten Unternehmen erklären, die Digitalisierung ihrer Geschäftsprozesse nun beschleunigen zu wollen und 50 Prozent daran denken, einzelne Produktionsschritte zu automatisieren.
Auch in anderen Bereichen hat Corona Change-Prozesse beschleunigt. Einen ungeheuren Boost hat sicher das ortsunabhängige Arbeiten erlebt: Laut Bundesamt für Statistik haben 2019 rund 1’108’000 Arbeitnehmende in der Schweiz gelegentlich im Homeoffice gearbeitet. Gemäss einer Schätzung des Forschungsinstituts gfs.bern ist der Anteil an Arbeitnehmenden, die während des Lockdowns mehr als 6 Stunden im Homeoffice gearbeitet haben, um rund 335’000 Personen angestiegen und die Anzahl der Stunden, die im Homeoffice geleistet wurden, hat sich verdreifacht. Martina Kurth ist der Meinung, dass die Arbeitswelt nach Ende der Krise dauerhaft verändert sein wird und sieht tiefgreifende Veränderungen in Geschäfts- und Führungsmodellen voraus. Eine internationale Umfrage des amerikanischen Marktforschungsinstituts Gartner bestätigt diese Annahme: Knapp drei von vier Geschäftsführern erwägen demnach, mindestens weitere fünf Prozent ihrer Angestellten dauerhaft vom Büro ins Homeoffice zu schicken. Für Zukunftsforscher Roos geht der Trend in Richtung hybrider Konzepte und flexibler Arbeitsmodelle wie sie beispielsweise Google zurzeit testet. Eine deutliche Sprache sprechen auch die vielen neuen digitalen Angebote für den Arbeitsmarkt: Im März 2020 hat beispielsweise die Videokonferenz-App Zoom nach eigenen Angaben 200 Millionen tägliche Nutzer verzeichnet. Ende 2019 waren es erst zehn Millionen. All das wird auch die Art verändern, wie wir unsere Lebensräume organisieren – und auch hier werden digitale Technologien wegweisend sein.
Auch im Bereich der Bildung dürften sich schon lange angestrebte Veränderungen beschleunigen. Online-Lernplattformen meldeten bis vor Kurzem unvorstellbare Rekordzahlen. Von einem Tag auf den anderen mussten Schweizer Lehrkräfte das vom neuen Lehrplan 21 gewünschte Mehr an digitaler Kompetenz unter Beweis stellen. Dank digitalen Tools konnte Schule weitergehen – gleichzeitig stellten sich gewisse Ansprüche ans Online-Lernen auch als überzogen heraus. Das gilt auch in anderen Bereichen: «Die Pandemie hat viele Dinge auf den Kopf gestellt – manche aber auch wieder auf ihre Füsse», schreibt Sibylle Olbert-Bock, Professorin für Leadership und Personalmanagement an der Ostschweizer FH. Und sehr differenziert erklärt in ihrem Beitrag FMH-Präsidentin Yvonne Gilli, warum es zu kurz greift, den digitalen Nachholbedarf des Gesundheitswesens pauschal den Ärzten anzulasten und warum auch sie die Pandemie als beschleunigende Chance für die Digitalisierung sieht.
Manchen ging und geht das alles zu schnell, manchen (siehe Kasten) nicht schnell genug. Aber eines ist sicher. Der Weg ist eingeschlagen. Und es gibt kein Zurück.
Wie viel digitalen Nachholbedarf hat die Schweiz?
(cdh) – Die Schweiz steht vor grossen, neuartigen Herausforderungen. Wie selten zuvor ist uns Zeitalter geprägt von immer schneller werdenden technologischen und wissenschaftlichen Entwicklungen. Insbesondere die Digitalisierung beeinflusst sämtliche Aspekte unseres Alltags. Die Schweiz muss den sich rasant beschleunigenden technologischen Wandel aktiv mitgestalten, um ihn produktiv nutzen zu können und die Wettbewerbsfähigkeit und den Wohlstand des Landes auch in Zukunft zu sichern.
Soweit die Analyse von CH++. Die neu gegründete gemeinnützige Organisation will die wissenschaftlichen und technologischen Kompetenzen von Politik, Behörden und Gesellschaft stärken und sich für einen sinnvollen, effizienten Einsatz von Wissenschaft und Technologie einsetzen.
Zu den Gründungsmitgliedern von CH++ zählen Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Wirtschaft wie der Epidemiologe Marcel Salathé, Zattoo-Gründerin Bea Knecht, Medizinprofessor Gieri Cathomas oder Liip-Mitgründer Hannes Gassert. Für diesen hat COVID-19 «schonungslos gezeigt», dass die Schweiz in digitaler Hinsicht dringend ein Upgrade brauche.
Digital New Deal
«Im Zentrum der digitalen Transformation sollte in den nächsten Monaten die Steigerung des digitalen Reifegrads von KMUs, Verwaltung sowie noch wenig digitalisierten Institutionen der Wissensgesellschaft stehen. Ohne digitale Basisinfrastruktur bleiben alle weiteren Szenarien der digitalen Schweiz für immer Träume», steht in einem im 2020 veröffentlichten White Paper (inzwischen nicht mehr verfügbar), das Digitalswitzerland in Zusammenarbeit mit der Wissensfabrik erstellt hat. Die Analyse kommt zum Schluss, dass die Schweiz einen «Digital New Deal» brauche, um ihre Infrastruktur, ihre Institutionen und ihre Innovationskraft zukunftstauglich machen zu können: «Er verbindet das Analoge mit dem Digitalen, digitale Profis und digitale Anfänger, Natur- und Geisteswissenschaften, den Staat und seine Bürgerinnen, Wirtschaft und Gesellschaft, Natur und Technologie. Der neue digitale Deal muss Teil des Green New Deal sein, sollen sich die Gefahren des Klimawandels und einer Gesellschaft der Ungleichheit nicht verstärken.»
www.chplusplus.org
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