asut-Bulletin
The new normal: Aktuelle Digitaltrends und Use Cases
Ausgabe
01/2021
Die Pandemie pusht

 

Von Yvonne Gilli

Zukünftige Ärztinnen und Ärzte wählen ihr Studienfach aus einer Kombination des Interesses für Natur- und Sozialwissenschaften und aus dem Wunsch heraus, mit Menschen zu arbeiten und Menschen zu helfen. Seit 2017 kann das Bachelorstudium in Medizin auch an der ETH absolviert werden. Dieses Studium stärkt mit Erfolg die Verbindung zwischen Medizin und Naturwissenschaft unter Anwendung digitaler Technologien und der Vermittlung von Wissen, welches in naher Zukunft bereits Voraussetzung sein wird, um qualitativ gute medizinische Dienstleistungen zu erbringen. Dazu gehört der bewusste Umgang mit Big Data genauso wie die Beurteilung und Nutzung von Gesundheits-Apps, welche zusehends den Taschenkalender im Kittel der Ärztin oder des Arztes ersetzen.

Die Ernüchterung erfolgt spätestens mit dem Abschluss des Medizinstudiums und dem Beginn der Weiterbildungszeit zur Erreichung des Facharzttitels. Faktisch verbringen die Assistenzärztinnen und -ärzte zwei Drittel ihrer Arbeitszeit mit administrativen Arbeiten, natürlich am Computer, aber nicht zur Unterstützung der Qualität ihrer Arbeit. Redundant müssen Personendaten erfasst werden. Untersuchungsresultate können nicht in die Primärsoftware integriert werden. Gut standardisierbare Informationen wie die Messung von Vitalparametern werden nicht strukturiert erfasst. Noch ahnen viele nicht, dass die Einführung des elektronischen Patientendossiers ihr Leid nicht verbessern wird. Bis jetzt gibt es nicht einmal ein nutzenbringendes Konzept für die elektronische Unterstützung des Medikationsprozesses, obwohl das Potenzial für eine verbesserte Behandlungsqualität gut erforscht ist.

Es ist klar, dass die Ärzteschaft unter solchen Arbeitsbedingungen die Digitalisierung auch kritisch würdigt. Um nutzenbringende Anwendungen zu entwickeln, müssen die Ärztinnen und Ärzte an den Lösungen beteiligt werden. In ihrem Engagement sind sie auf das Wissen von Medizinformatikerinnen und -informatikern angewiesen. Diese bilden die Brücke zwischen der Informatik und deren Anwendung im Arbeitsprozess der Ärztinnen und Ärzten und der weiteren Gesundheitsberufe. Die Schweiz hat einen riesigen Nachholbedarf in der Ausbildung von Medizininformatikerinnen mit universitärem Masterabschluss. Die Spitäler haben einen immensen Nachholbedarf bei ihren Investitionen in die Digitalisierung. Dabei ist das Teure nicht die Technologie, sondern die hochqualifizierten Arbeitskräfte, welche interprofessionell an der Schnittstelle zwischen Naturwissenschaft und medizinischer Dienstleistung am Patienten Lösungen entwickeln.

Paradoxerweise bietet uns die Pandemie mit Covid-19 trotz grossem Leid auch riesige Chancen. Bereits in der ersten Welle nutzten einige Staaten äusserst geschickt digitale Warn-Apps und digital übermittelte Testresultate zur Bewältigung der Pandemie. Dank künstlicher Intelligenz und Hochleistungsrechnern können global die Ausbreitungsmuster der Coronaviren erkannt und geeignete Strategien entwickelt werden. Videokonsultationen unterstützen die Fortführung der Behandlung, ohne dass sich Hochrisikopatienten einem zusätzlichen Ansteckungsrisiko aussetzen müssen auf dem Weg in die ärztliche Praxis. Schülerinnen und Schüler sowie Studentinnen und Studenten können dank Streamingdiensten und Podcast unterrichtet werden, während einschneidende staatliche Massnahmen Präsenzunterricht verbieten. Eine repräsentative Umfrage der FMH konnte zeigen, dass seit Beginn der Pandemie das Verhalten von Patientinnen und Patienten sowie der Ärzteschaft digital-affiner geworden ist. In diesem Sinn pusht die Pandemie die Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung. Sie wird dann nachhaltig sein, wenn jetzt rasch und pragmatisch nutzenbringende digitale Werkzeuge Eingang in den ärztlichen Alltag finden.

 

 

Yvonne Gilli

Yvonne Gilli, Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin und frühere grüne Nationalrätin, ist Präsidentin des Ärztedachverbandes FMH.

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