asut-Bulletin
Kids & Codes: Bildung für eine digitale Welt
Ausgabe
01/2018
Informatik-Kompetenzen und innovative Lehr-Lernszenarien in einer zunehmend digitalen Lebens- und Wirtschaftswelt

Die immer wichtiger werdende strategische Bedeutung von Informatik in fast allen Branchen bringt neue betriebswirtschaftliche Herausforderungen mit sich. Beispielsweise ging es früher darum mittels Informatik Prozesse effizienter zu machen, repetitive Tätigkeiten zu automatisieren und Informationen als Entscheidungsgrundlage bereitzustellen. Heute hingegen sind Unternehmen mit der Frage konfrontiert, ob und in welchem Umfang sie ihre Produkte, Dienstleistungen, Prozesse und auch Geschäftsmodelle digitalisieren und ggf. grundsätzlich verändern.

Daraus resultiert, dass in Zukunft alle Bereiche eines Unternehmens lernen müssen, alle Möglichkeiten der Informationstechnik und der Informatik insgesamt richtig einzusetzen. Im Zuge dessen entstehen auch neue Berufsbilder, wie z.B. das des Entrepreneurship-Informatikers, der auf Grundlage profunder Kenntnisse in Informatik neue Chancen und unternehmerische Möglichkeiten erkennt und in der Lage ist, neue digitale oder digital erweiterte Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle zu gestalten und umzusetzen.

Aus- und Weiterbildung in einer digitalen Lebens- und Wirtschaftswelt hat deshalb die Aufgabe, Lernenden Mindset, Skillset und Toolset für diese neuen Anforderungen mit auf den Weg zu geben. Ziel von Wirtschaftsuniversitäten wie der Universität St. Gallen muss es deshalb sein, verantwortungsvoll unternehmerisch denkende Persönlichkeiten mit Gestaltungskompetenz im digitalen Kontext hervorzubringen. Um dies zu erreichen, benötigen wir neue studierendenzentrierte Lehr-Lernszenarien, die Pre-, In- und Post-Class Phasen der «Learner Journey» eines individuellen Studierenden besser aufeinander abstimmen, damit ganzheitliche, individuelle Lernprozesse ermöglicht werden. Dies setzt eine durch alle Phasen begleitende, digitale und interaktive Lernplattform voraus. Dabei ist der persönliche Kontakt (In-Class) zu den Studierenden im Rahmen einer Campusuniversität unerlässlich, wie beispielsweise die hohen Drop-out Rates von rein online-basierten MOOCs (knapp 90%) eindrucksvoll zeigen (Jordan, 2015).

Während die Pre-Class Phase mit Videos und Wissenstests hauptsächlich dazu genutzt werden soll, dass sich Studierende Wissen (z.B. zu Theorien und Konzepten im Bereich der digitalen Transformation) aneignen, liegt der Fokus während der Kontaktzeit (In-Class Phase) auf Reflektion, Diskussion und Feedback des Erlernten. Um dieses Ziel zu erreichen, können beispielsweise Lernmethoden wie «Co-Create your Exam» oder auch «Peer Discussion» einen wertvollen Beitrag leisten.

Mit «Co-Create your Exam» können Studierende selbst mögliche Klausurfragen erstellen und damit ihr erlerntes Wissen festigen. Diese Fragen werden anschliessend Mitstudierenden zur Beantwortung und Bewertung als mögliche Klausurfrage zugewiesen. Studierende lernen dadurch sich Wissen aktiv anzueignen und in Interaktion mit anderen Mitstudierenden weiterzuentwickeln  (Wegener & Leimeister, 2012).

Die zweite Lernmethode «Peer Discussion» verfolgt den Zweck, dass sich Studierende zunächst selbst eine Meinung über ein kontroverses Thema (z.B. Blockchain Anwendungen) bilden und resultierend daraus eine Pro- oder Kontraposition einnehmen. Anschliessend wird das Gesamtergebnis den Mitstudierenden präsentiert. Die Studierenden erhalten daraufhin die Möglichkeit, in kleinen Gruppen das Ergebnis zu diskutieren und damit ihre Position weiterzuentwickeln. Durch diese Methode lernen Studierende reflektiert eigene Meinungen zu vertreten (Smith, Wood, Adams, Wieman, Knight, Guild & Su, 2009.

In der Post-Class Phase geht es darum, dass Studierende das erlernte Wissen dazu nutzen, um komplexe, reale Problemstellungen zu lösen. Dies kann mittels Case-Studies oder Projektarbeiten sehr gut erreicht werden. Entscheidend für den effektiven Lernprozess ist es hier, dass Studierende individuelles Feedback auf ihre Arbeiten erhalten. Dies ist auf Seite der Dozierenden aufgrund von knappen finanziellen und organisatorischen Ressourcen oft schwer möglich. Eine Alternative dazu ist die Nutzung des Wissens der Mitstudierenden. Beispielsweise verfolgt die Methode des «Peer Assessments» das Ziel, Studierende anonym die Aufgaben anderer Studierenden bewerten zu lassen.

Ein Ausblick in die Zukunft zeigt, dass vor allem der Bereich «Learning Analytics» grosses Potenzial hat, Studierende in ihren individuellen Lernprozessen noch besser zu unterstützen. Learning Analytics nutzt Daten der Studierenden, um Lehr-Lernszenarien noch besser auf die individuellen Bedürfnisse abzustimmen. Es bleibt spannend zu sehen, wie Technologien wie diese noch produktiveres Lernen ermöglichen.

Die vorgestellten Methoden führen dazu, dass Studierende aktiv und ganzheitlich lernen, damit sie neben Wissen vor allem Gestaltungskompetenz für eine digitale Lebens- und Arbeitswelt entwickeln.

Literatur

Broy, M.; Brenner, W.; Leimeister, J.M. 2017. Auf dem Weg zu einer Informatik neuer Prägung in Wissenschaft, Studium und Wirtschaft. In: Informatik-Spektrum, Ausgabe 6/2017. Zum Artikel

Jordan, K. 2015. Massive open online course completion rates revisited: Assessment, length and attrition. The International Review of Research in Open and Distributed Learning, 16(3).

Smith, M. K., Wood, W. B., Adams, W. K., Wieman, C., Knight, J. K., Guild, N., & Su, T. T. 2009. Why peer discussion improves student performance on in-class concept questions. Science, 323(5910): 122–124.

Wegener, R., & Leimeister, J. M. 2012. Do Student-Instructor Co-created eLearning Materials Lead to Better Learning Outcomes? Empirical Results from a German Large Scale Course Pilot Study. In System Science (HICSS), 2012 45th Hawaii International (Ed.): IEEE. Zum Artikel

 

Jan Marco Leimeister

Prof. Dr. Jan Marco Leimeister ist ordentlicher Professor für Wirtschaftsinformatik an der Universität St. Gallen und forscht über Gestaltung, Einführung und Management von IT-gestützten Organisationsformen und Innovationen.

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