asut-Bulletin
ICT für eine nachhaltige Zukunft
Ausgabe
01/2020
Bitte einen Chancendiskurs!

Von Judith Bellaïche

Kein Tag verging ohne Meldung, ohne Forderung, ohne Warnung. Wie sie sich angekündigt hat, ist sie einhergerollt: die Grüne Welle. Ebenso wuchtig sind nun die Erwartungen, die über die Politik, die Forschung, aber auch die gesamte Gesellschaft hereingebrochen sind.

Sofort soll er passieren und möglichst rasch, der Wandel. Aber nachhaltig soll er sein, und gerecht. Und bloss keine Einschnitte in unseren gewohnten Komfort. Und weil der Mensch allein diesen Anforderungen nicht genügen kann, werden die Superkräfte der Digitalisierung heraufbeschworen. Darauf komme ich noch zurück.

Blicken wir zuerst zehn Jahre zurück, als sich das Potenzial der Digitalisierung dank Mobilgeräten allmählich zu erkennen gab, und zählen ganz kurz auf, welche Dienste sie für eine faire und nachhaltige Gesellschaft geleistet hat.    

Information als höchstes Gut für Gerechtigkeit wurde universal und real-time zugänglich gemacht. Mit steigender Transparenz wurde das Machtgefälle zwischen Anbietern und Konsumenten, zwischen politischen Regimes und Bürgern, zwischen Patriarchat und Pluralismus aufgebrochen und infrage gestellt. Information ist Macht, und die Digitalisierung hat die Informationsasymmetrie fast vollständig aufgehoben.

Der Nutzen der Digitalisierung für die Gesellschaft überwiegt. Daher wird sie ein Game-Changer sein in unseren Bestrebungen zur ökologischen Wende.

Damit wurde auch der Zugang zu Wissen und Bildung weltweit direkter, schneller und günstiger: Bildung kann auf neuen und informellen Wegen stattfinden, wo sie bislang inexistent war. Wissen wurde demokratisiert, und damit auch die Möglichkeiten der Bürger, sich abseits der formellen Medienkanäle zu informieren und eigene Inhalte zu veröffentlichen. Das Privileg der Informationsselektion und -verbreitung wurde gesprengt und verteilt.

Menschen, die nie eine Bank betreten konnten, wurde der Zugang zu Finanzdienstleistungen ermöglicht. Menschen, die noch nie beim Arzt waren, erhielten neue Wege der medizinischen Versorgung und Hygiene. Soziale Kommunikation zwischen Menschen wurde rund um die Welt in Echtzeit und kostenlos möglich. Neue Geschäftsmodelle wurden realisierbar und damit Wertschöpfungsketten aufgebrochen und neu definiert. 

Das mag eine etwas verklärte Darstellung der Digitalisierung sein, was durchaus beabsichtigt ist. Natürlich hat auch die Digitalisierung ihre Schattenseiten und birgt negatives Potential. Sie hat neue Machtgefüge geboren, neue Ungerechtigkeiten geschaffen, und der Übereifer der kommerziellen Verwertung schwappt bisweilen über das zulässige Mass hinaus. Doch diese Grenzüberschreitungen lassen sich korrigieren, und der Nutzen der Digitalisierung für die Gesellschaft überwiegt. Daher wird sie ein Game-Changer sein in unseren Bestrebungen zur ökologischen Wende. Davon bin ich persönlich überzeugt.

In diesem Kontext erstaunt es, wie binär die Diskussion um den Green Deal im neu zusammengesetzten Parlament verläuft: Bereits jetzt ist absehbar, dass es sich nicht hauptsächlich um eine Regulierungsdebatte handeln wird, gespickt mit Schuldzuweisungen und Umverteilungsforderungen. Stattdessen sollten wir einen Chancendiskurs führen. Einen Diskurs, der die Stärken der Schweiz und unseren Beitrag zur Nachhaltigkeitswende ins Zentrum rückt. Wir haben jetzt und hier die gewaltige Chance, einen positiven Drall in den angestrebten Wandel zu bringen, indem wir die Digitalisierung in den Dienst der Nachhaltigkeit stellen.

Aber gerade aus der Ecke derjenigen, die für den ökologischen Wandel einstehen, schlägt uns eine überraschend hohe Technologieskepsis entgegen. Bereits werden notwendige Strukturen infrage gestellt, diffuse Ängste gestreut und die Digitalisierung ins Reich der dunklen Mächte projiziert. Dabei ist es gerade sie, die die Grüne Welle überhaupt ermöglicht hat. Ohne die Möglichkeiten des Informationsaustausches, ohne digitale Verbreitung über die sozialen Medien wären Gretas Botschaften bis heute ins Leere verhallt.

Die Digitalisierung ein dringend notwendiges Beschleunigungsmittel. Mit den herkömmlichen, gemächlichen Massnahmen der Vergangenheit lassen sich die Probleme der Zukunft nicht lösen.

Sagen wir es, wie es ist: Ohne Digitalisierung wird es eine ökologische Trendwende nicht geben. Sie ist für die globale Vernetzung und Gouvernance unerlässlich. Denn im Alleingang ist der Green Deal nicht zu schaffen. Darüber hinaus ist die Digitalisierung ein dringend notwendiges Beschleunigungsmittel, ohne das wir nicht genügend Tempo herbeiführen können. Mit den herkömmlichen, gemächlichen Massnahmen der Vergangenheit lassen sich die Probleme der Zukunft nicht lösen. Es gibt kaum einen Bereich der Ökologie, in dem die Digitalisierung keinen positiven Beitrag zu leisten vermöchte – angefangen bei der Produktion und Feinverteilung von Energie über effiziente Logistik und Mobilität bis hin zur gezielten Unterstützung in der Landwirtschaft. Das Potenzial ist gewaltig, die bisherige Umsetzung jedoch bescheiden – vor allem in der Schweiz. Welche Pflöcke müssen wir einschlagen, um dies zu ändern?

First things first: Eine fehlende Digitalstrategie heisst auch eine unvollkommene Umweltpolitik. Die Digitalisierung sollte nicht nur inhärenter Bestandteil jeder Umweltpolitik werden, sondern unser Nachhaltigkeitsdenken massgeblich prägen. Deshalb müssen wir – und unsere Regierung – dieses strategische Vakuum endlich füllen.

Natürlich muss sich die Digitalbranche aber auch selbst an der Nase nehmen: Um die Digitalisierung in den Dienst der Digitalisierung zu stellen, müssen wir sie selbst auf ein nachhaltiges Fundament setzen. Dazu gehört, dass sie im Einklang mit der Gesellschaft stattfindet und deren Vertrauen geniesst. Ein sozialer Kontrakt (nichts weniger als das!) ist das Ziel, an dem wir arbeiten müssen. Und dafür braucht es einen ergebnisoffenen Diskurs und den respektvollen Umgang aller Beteiligten miteinander, bis hin zum Individuum.

Etwas greifbarer ist die Energiefrage: Digitalisierung braucht Strom, und, wollen wir sie nachhaltig gestalten, müssen wir auf saubere Energiequellen setzen. Eine Vielzahl von Playern setzt bereits auf die Karte der Erneuerbaren, was sehr zu begrüssen ist. Aber diese Bereitschaft muss von der ganzen Industrie getragen und umgesetzt werden – proaktiv, eigenverantwortlich und aus einer Position der Stärke heraus.

Komplizierter ist die Notwendigkeit der Infrastrukturerneuerung: Digitalisierung braucht Vernetzung, und zwar nicht nur vertikale Vernetzung zu und von Anbietern, sondern auch horizontale Vernetzung zwischen den Menschen, Bauten, Fahrzeugen und Gegenständen. Nicht zuletzt, um die eben erwähnte Energiefrage zu lösen. Zuverlässige und leistungsfähige Datenübermittlung bedarf einer robusten Infrastruktur. Brauchen wir 5G? Schade, dass der Regierung der Mut zur klaren Antwort fehlt: Ja, wir brauchen 5G.

Last but not least: Wir müssen Teil des digitalen Binnenmarkts sein. Digitalisierung kennt keine Landesgrenzen und kann nur in einem Kooperationssystem Erfolg haben. Deshalb muss die Schweiz einen Platz am internationalen Verhandlungstisch haben.

 

 

Judith Bellaiche

Judith Bellaïche ist die Geschäftsführerin von swico, Wirtschaftsverband für die digitale Schweiz, und wurde im Oktober 2019 im Kanton Zürich für die Grünliberale Partei neu in den Nationalrat gewählt.

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