asut-Bulletin
Fortschritt und Risiko
Ausgabe
02/2020
Auf einmal galt es für uns alle: virtuelle Zusammenarbeit, Home-Office, vertrauensbasierte Führung – und jetzt?

Die Krise der letzten Wochen hat uns auch einen Dienst erwiesen: Auf einmal steht der Mensch im Mittelpunkt. Momente der Langsamkeit, Autonomie, Zeit mit der Familie, weniger Zeit im Stau – und neue Formen der Begegnung bekamen praktisch über Nacht eine neue Wichtigkeit. Home-Office ist nun für alle erlaubt: Es wird über Vertrauen und nicht über die Präsenz geführt und ein Grossteil der Mitarbeitenden ist befähigt, virtuell miteinander zu kommunizieren. Was, wenn dies ein bleibender Trend ist und neue Technologien uns noch weitere Arbeitsformen bescheren, die uns zurück zu unserer Menschlichkeit führen? Das ist möglich – solange wir eine ethische Auseinandersetzung über die Auswirkung von Technologien wie Künstlicher Intelligenz (KI) auf Mitarbeitende, die Organisation und die Gesellschaft ins Zentrum unseres Tuns stellen.

Wird Künstliche Intelligenz zum Jobkiller?

KI, Robotics, Nano, High Performance Computing oder auch Virtual und Augmented Reality verändern die Art und Weise, wie wir arbeiten enorm. Der KI-Einsatz soll für einen starken Wachstumsschub sorgen. Die Schweiz hat dafür gute Voraussetzungen geschaffen: Sie weist in Europa die höchste Zahl an KI-Firmen pro Einwohner auf. Ausserdem gilt sie laut «Global Innovation Index» als innovativstes Land der Erde. KI bietet nie dagewesene Möglichkeiten, neue Erkenntnisse aus Daten zu gewinnen. Diese bilden die Basis für neue Produkte und Services und erlauben grosse Teile der Wertschöpfungskette zu automatisieren. Unternehmen erwirtschaften mehr Gewinn, arbeiten effizienter und senken die Kosten. Für die Strukturen im Betrieb bedeutet das einen tiefgreifenden Wandel: Routine- und Wiederholungstätigkeiten fallen weg – und auch Arbeitsplätze. 75 Millionen Jobs könnten weltweit durch KI überflüssig werden, heisst es im «Future of Jobs»-Report des Weltwirtschaftsforums. Ganze Berufsbilder werden sich verändern. Gleichzeitig entstehen aber neue, spezialisierte Tätigkeitsfelder und Aufgaben – von 133 Millionen geht das Weltwirtschaftsforum aus.

Obwohl die Übergangszeit für viele hart werden kann, ist also diesen Zahlen nach die Jobbilanz der neuen Technologie sogar positiv. Viele Beschäftigte konzentrieren sich in Zukunft mehr auf empathische, kommunikative, kreative und wertschöpfende Aufgaben – oder auf Tätigkeiten rund um die Daten. Sogar hoch spezialisierte Mitarbeiter werden Daten bewerten und Algorithmen trainieren. Es gilt für jeden von uns zu verstehen, wo die Reise im eigenen Berufsfeld hingeht und mit den Entwicklungen Schritt zu halten.

Welche Verantwortung bringen neue Technologien mit sich?

Dies ist nicht nur einfach. Die grösste Herausforderung ist die exponentielle Natur der Veränderungen. Uber betreibt ein Transport-Unternehmen ohne eigene Autos, AirBnB eine Hotelkette ohne Hotels. AirBnB hat 2019 Hilton umsatzmässig überholt  – dabei hat AirBnB etwa 3000 Mitarbeitende, Hilton rund 170’000. Im Jahr 2000 beschäftigte Goldman Sachs 600 US Cash Equity Traders. 2017 waren es noch zwei – unterstützt von 200 Computer Engineers.  Es eröffnet also enorme Chancen, in digitalen Geschäftsmodellen zu denken und Herausforderungenneu zu lösen. Dabei sind jedoch moralische und ethische Fragen vorprogrammiert – fragen sie nur einen Taxifahrer, was er von Uber hält. Wäre es richtig, einen Teil der Pflege von Alzheimer-Patienten an Maschinen auszulagern, wenn dies positive Resultate zeigt? Wieviel Automatisierung ist nötig; wer ist für die Weiterbildung der Mitarbeitenden zuständig? Wem würden Sie die Medikamente zuerst geben, die durch KI entwickelt wurden? Solche Entscheidungen liegen bei Führungskräften, denen damit eine enorme Verantwortung zukommt. Denn wir leben in einer Zeit, in der wir neue Möglichkeiten haben, grundlegende Probleme und Ungerechtigkeiten aus der Welt zu schaffen – oder sie exponentiell zu verstärken.

Der Weg aus diesem Dilemma dreht sich um die Leitfrage: Lässt sich durch die Tätigkeit Sinn stiften oder nicht? Schaffen die neuen Produkte und Dienstleistungen nachhaltigen Wert und generieren sie mehr Gleichgewicht und Zugang zu Wohlstand und Wissen? Bringen sie mehr Gesundheit, Freude oder Schönheit in die Welt? Wird unser Planet lebenswerter, auch für zukünftige Generationen?

Führungskräfte stehen vor der nicht leichten, aber sinnvollen Herausforderung, nicht nur den Wandel zu managen. Es geht darum, Mitarbeitende auf diese Reise mitzunehmen, zu vermitteln, welche Möglichkeiten der Wandel bringt, und ehrlich zu sein bezüglich der künftigen Job-Profile. Führungskräfte, die die Mitarbeitenden involvieren und klar aufzeigen, in welche Richtung sich die Firma bewegt, welche Profile die Organisation brauchen wird – und welche nicht – gewinnen das Vertrauen ihrer Leute und somit auch das der Kunden. Dazu gehört aufzuweisen, wie die Belegschaft die Reise mitgehen kann. Konsumenten verlangen Transparenz über den ethischen Umgang mit Menschen und mit der Umwelt. Über Menschen und Kultur unterscheiden sich Firmen massgeblich.

 

Foto: Atos Schweiz

 

Welche entscheidenden Fähigkeiten bringen wir Menschen ein?

Dass KI und Automatisierung immer mehr Aufgaben übernehmen, heisst nicht, dass sie Mitarbeiter aus ihren Jobs drängen. Die Technologie wird vielmehr menschliche Tätigkeitsfelder verändern und erweitern. So ist es in Zeiten von Big Data, KI und Cloud Computing nicht länger notwendig, umfassende Informationen, Daten oder Fakten im Detail zu kennen – es ist aber wichtig, ihren Wert einschätzen zu können und die Intuition zu haben, welcher Nutzen in ihnen steckt. Fakten können Mitarbeiter jederzeit abrufen und mit Hilfe von KI sinnvoll auswerten lassen. Viel wichtiger wird sein, dass sie zwischenmenschlich kompetent sind und Empathie für ihre Kollegen und Kunden zu haben. Es gilt einen Service-Mindset auszubilden, die richtigen Fragen zu stellen, sinnvolle Antworten zu finden und neue Ideen zu entwickeln. Wer versteht, wozu Algorithmen in der Lage sind und diese versiert einsetzt zählt im Job am Ende zu den Gewinnern. Statt Technologie abzulehnen, können Mitarbeitende dies als Chance begreifen, ihre Aufgaben besser und einfacher bewältigen zu können oder Kunden positiv zu überraschen, wie das folgende Beispiel zeigt.

Zusammenarbeit von Mensch und KI – am Beispiel einer Customer Journey

In wenigen Jahren wird der KI-Einsatz Alltag sein. Mitarbeiter verwenden Algorithmen und Bots ganz selbstverständlich, ohne bewusst auf sie zuzugreifen. Wir werden bald alle ein kleines Team von virtuellen Assistenten zu unserer Verfügung haben – auf dem Handy und im Büro. Erledigten Menschen 2018 noch 71 Prozent aller Tätigkeiten in Unternehmen, werden es 2022 nur noch 58 Prozent sein, so der Report „Future of Jobs“ des Weltwirtschaftsforums.

Welche Aufgaben KI, Mitarbeiter und Führungskräfte dabei jeweils übernehmen könnten, zeigt ein Szenario, das die Marktforscher von Forrester 2019 in ihrem Ausblick «Die Zukunft der Arbeit» entwickelt haben: Eine Geschäftsfrau will in einer fremden Stadt an einem Meeting teilnehmen. Ein autonom fahrendes Auto soll sie vom Flughafen zur Firma bringen.

  • Die Beschäftigten des Autoverleihers verbinden sich (mit Einwilligung der Kundin) mit ihrem digitalen Zwilling. In dieser virtuellen Repräsentanz sind alle ihre Präferenzen und Erwartungen an die Fahrt gespeichert.
  • Die KI nutzt diese Informationen, um das entsprechende Fahrzeug zu finden und bereitzustellen.
  • Die Flotte aus unterschiedlichen Autotypen haben die Produktmanager des Autoverleihers mit erstklassigen Serviceleistungen ausgestattet, die basierend auf den Präferenzen der Kunden aktiviert werden können.
  • Am Flughafen steht das Automodell in der von der Kundin präferierten Farbe bereit.
  • Die KI schickt automatisch eine Nachricht an die Kundin, damit sie weiss, wo es zu finden ist – sowie eine weitere Nachricht an ihre Familie, dass sie gut angekommen ist.
  • Die Kundenberater haben mit Hilfe der KI wichtige Informationen von dem digitalen Zwilling ermittelt und nutzen diese, um Programme zu aktivieren – etwa das Navigationssystem oder einen Bot, der der Kundin während der Fahrt als digitaler Assistent dient.
  • Sobald die Kundin aus dem Auto steigt, evaluiert ihr digitaler Zwilling das Erlebnis und passt die Erwartungen für die nächste Fahrt an.

Fazit: Wir haben eine nie dagewesenen Möglichkeit, mit Hilfe von Technologien eine lebenswerte Zukunft zu bauen – stellen wir uns dieser Verantwortung.

Unternehmen stehen vor dem Dilemma, wie sie die Vorteile von KI ausschöpfen können, ohne dass die Beschäftigten und Teile der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Der Weg aus dem Dilemma führt über die Frage des Sinns und der Ethik des eigenen Handelns sowie des Handels der Organisation als Ganzes. Ein humanzentrierter Ansatz ist entscheidend: Unternehmen, die vom Wandel am meisten betroffen sind, gelingt dieser nur, wenn sie ihre Mitarbeitenden mit ins Boot holen, ihren Ängsten, Bedürfnissen und Träumen Raum geben sowie diese in die Diskussion mit einbeziehen. Technologische Entwicklungen können den Wandel hin zu einer besseren Welt unterstützen – und bergen gleichzeitig das Risiko, die Umstände exponentiell zu verschlechtern. Ethische Konflikte, die mit Fragestellungen rund um die Möglichkeiten der Digitalisierung einhergehen, gilt es daher von vornherein zu durchdenken. Wir leben in einer Zeit, in der wir in unserer ganzen Menschlichkeit gefordert sind, mit unserer Empathie, unserer Kreativität und unserem Intellekt.

Kevyn Eva Norton

Kevyn Eva Norton ist Leiterin Digitale Organisation und Mitglied der Atos Scientific Community.

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